Der Komponist Wilfried Hiller gibt Einblick

Von Katrin Diehl

Die „Apokalypse“ steht an. Die des Evangelisten Johannes. Johannes befindet sich auf der griechischen Insel Patmos, dort in einer Höhle. Er lauscht, vernimmt durch Spalte in der Wand Worte, Sprache, die Stimme Gottes, die ihm in die Hand diktiert, was sich bis heute im letzten Buch des Neuen Testaments nachlesen lässt, ein wenig freundlicher anmutend auch die „Offenbarung des Johannes“ genannt. Wie sie beginnt, adelt – wer gewillt ist, das so zu verstehen – jedes Stück Literatur. Denn ginge es nach ihr, war „Im Anfang … das Wort.“

Wilfried Hiller, der zu einem der am häufigsten aufgeführten zeitgenössischen Komponisten in Deutschland gehört, macht das Wort zu Musik. Die Vokalkomposition zur „Apokalypse“, sein „nächstes Projekt“, möchte er mit der babylonischen Sprachverwirrung beginnen lassen, einem Rückgriff also aufs sehr wissende Alte Testament. „Die Menschen reden auf Aramäisch, Lateinisch, Griechisch, Arabisch …, also in den verschiedensten Sprachen, bis sich daraus so langsam eine Sprache herausschält, die dann den Einakter tragen wird.“ Wer über das Thema Wort, Sprache, Literatur und deren „Umwandlung“ in Musik philosophieren wie musikwissenschaftlich fundiert reden möchte, hat in Hiller ein tiefgründig plauderndes Gegenüber, einen Kenner, gefunden. Außerdem wird der Komponist – obgleich im bayerisch-schwäbischen Weißenhorn geboren, möchten wir ihn nach all den Jahren einen Münchner nennen – dieser Tage 81 Jahre alt, wozu sehr herzlich zu gratulieren ist.

Musik und Sprache, Musik und Literatur sind kaum zu trennen. Die Lyrik, „die zum Spiel der Lyra gehörende Dichtung“, wie sich das die Antike dachte, demonstriert, dass in der Sprache ohnehin Rhythmus zuhause ist, sich der Schritt zur Musik bereits vollzogen hat. Und vom Drama, das in der Antike zwischen Musik und Wort kaum trennte, wiederum ist es nicht weit zur Oper in all ihren Ausformungen. Als musikalisch, szenisch arbeitende Gattung, als Vokalmusik hebt sie, ein wenig lässig dahin gesagt, zu Melodien gemachte Literatur auf die Bühne, was allerdings dann ein ganz eigenes zeitliches Gefüge mit sich bringt. Richard Wagner wollte die Grenzen zwischen Musik und Literatur mit Donnerhall und Fanfaren fallen sehen, und Bert Brecht beäugte das Emotionspotential, das Musik dem Bühnengeschehen zusätzlich aufdrücken konnte, so kritisch wie schöpferisch. Und natürlich fallen einem zum Thema auch berühmte, kreative „Partnerschaften“ zwischen Schreibenden und Komponierenden ein wie die zwischen Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze …, um nur zwei zeitlich nicht ganz ferne zu nennen. Womit wir beim Thema Libretto wären und einer nächsten glücklichen Fügung, die Geistesverwandte im Jahr 1978 und zwar in Rom zusammengebracht hat: Wilfried Hiller und den Dichter, Schriftsteller Michael Ende. Und so wurden denn „Der Lindwurm und der Schmetterling“, „Der Goggolori“, „Das Traumfresserchen“, „Der Rattenfänger“, „Momo“ (nach Michael Endes Tod 1995 mit dessen Romantext als Vorlage) und vieles mehr zu Musik.

Im Grunde hatte der kleine Sohn Hillers, damals vier Jahre alt, seinen Vater zu Michael Ende geführt, einfach, weil der sich „den von Jim Knopf“ als Texter für eine angedachte Komposition für ihn gewünscht hatte. Und so kam eines zum anderen und man fand sehr wundersam zueinander. „Michael dachte beim Schreiben der Libretti immer die Musik mit, obwohl er mit Klassischer Musik gar nicht so viel am Hut hatte“, erinnert sich Hiller. Manchmal habe er auf seiner Gitarre ein paar Akkorde angestimmt, „und dann hat er gesagt: ‚Siehst du, so ungefähr stelle ich mir das vor‘ “. Geschrieben habe er vor allem nachts und wenn er dann mittags aufgewacht sei, so Hiller, sei dessen Frau, eine Schauspielerin, schon mit redigierendem Blick über alles gegangen, „und so wurden daraus wunderbar sprech- und singbare Sätze“.

Ob Hiller etwas für „vertonbar“ hält, geht für ihn zwar auch von der einzelnen Geschichte aus – da mag er es gerne „fantastisch und voller Deutung“ –, mehr aber noch von der Sprache, vom Wort. 1981 hat er für eine ZDF-Produktion „Schulamit“ nach dem Buch „Der Gesang der Gesänge“ aus dem Alten Testament komponiert, und zwar sehr bewusst nach der „Verdeutschung“ der Texte von Martin Buber. „Das sind die grandiosesten Übersetzungen, die es gibt, voller Wortschöpfungen, voller Rhythmus …, das verlangt nach Musik“, sagt Hiller. Seiner „Niobe“, hochgepriesene Fernsehproduktion des BR, liegt ein Fragment des gleichnamigen Dramas von Aischylos zugrunde, ein altgriechischer Text, der im „Original“ auf einem handgroßen Papyrus Platz findet, 21 Verse aus einer lückenlos aneinanderhängenden Wortschlange, von denen viele am Anfang und am Ende „verstümmelt“ sind. „Ich habe das gesehen und gewusst, diesen Text möchte ich in Musik setzen“, sagt Hiller, „Buchstabenreste werde zu Klagelauten …“. Carl Orff, dessen letzter Schüler Wilfried Hiller gewesen ist, habe einmal zu ihm gesagt, dass tote Sprachen die lebendigsten seien. „Sie haben viel musikalisches Potential“, stimmt Hiller zu. Am Ende erstarrt Niobe zu Stein und Hillers Töne tun es ihr an dieser Stelle nach.