Zwiesprache mit Rilke und Präsentation des neuen „Der Ewige Brunnen“ im Lyrik Kabinett

Von Michael Berwanger

Was soll Lyrik heute noch, mag die eine oder der andere denken, jene versgewordene Sprachform, metrisch gebannt oder frei mäandernd mit Wortkaskaden, die bis zur Undurchdringlichkeit ihren Sinn so verbergen, dass ein Verständnis nur mit Hilfe von Sekundärliteratur möglich scheint. Sprache in komprimierter Steifheit, bei der viele Menschen an langweilige Teekränzchen aus dem Biedermeier denken.

Wir kommen aus dem U-Bahn-Schacht bei der Universität, biegen in die Adalbertstraße ein, lassen die Universitätsgebäude links liegen und versagen uns einen kurzen Einkehrschwung in eine der zahlreichen Bars und Kneipen in der und um die Amalien-Passage. Denn wir streben der Nummer 83a zu, wo sich hinter der Durchfahrt jener Hof öffnet, der die derzeitigen Räume des Lyrik Kabinetts beherbergt.

1989 gründet die Kauffrau und Lyrik-Enthusiastin Ursula Haeusgen in der Münchner Innenstadt die Buchhandlung „Lyrik Kabinett“, um der Poesie mehr Geltung zu verschaffen. Die gleichnamige Lesegesellschaft und die Buchhandlung führt sie Anfang der Nullerjahre in eine Stiftung über. Seit 2005 hat die Stiftung ihren Sitz in der Amalienstraße.

Ein zweistöckiger Kubusbau aus Glas und Kupfer mit rechtwinklig angesetztem Pavillon strahlt uns entgegen und bittet uns einzutreten. Davor Skulpturen, Sitzgelegenheiten und viel gepflanztes Grün. Hier ist nichts steif und staubig, sondern frisch und urban, lichtdurchflutet und einladend. Über den Seitenpavillon geht es links in den Gang zur Bibliothek mit den verfahrbaren Archivschränken auf der rechten und dem Lese- und Veranstaltungssaal auf der linken Seite. Stuhlreihen im Saal, an den Wänden Porträts von Menschen, die in der Lyrik wichtige Rollen spielen, ein Podium stirnseitig, schräg dahinter sieht man auf den Hof, durch den wir hereingekommen sind. Die Show kann beginnen.

Mehr als 50 öffentliche Lesungen, Diskussionen und Begegnungen veranstalten die Verantwortlichen des Lyrik Kabinetts pro Jahr. Im März wird es – neben den Dauerbrennern „Held:innen auf Probe“ und „Poetry in Motion“ – noch zwei weitere herausragende Veranstaltungen geben.

1955 kam mit „Der Ewige Brunnen“ eine der bekanntesten Anthologien Deutscher Lyrik auf den Markt. Die Sammlung, die mehr als 1.500 Gedichte vom Mittelalter bis zur Jetztzeit umfasst, war für die Generationen der Nachkriegszeit durch ihre bemerkenswerte Reichweite ein wichtiger Einstieg in die lyrische Kunst. Bereits 2005 – zum 50. Jubiläum – hatte der Lyriker und Literaturkritiker Albert von Schirnding den Sammelband überarbeitet. Nun wurde der „Brunnen“ vom Lyriker und Romancier Dirk von Petersdorff zu zeitgemäßer Gestalt verjüngt. „Die Stimmen, Perspektiven und Überzeugungen sollten vielfältiger werden. Es sollten mehr Autorinnen vertreten sein. Mehr Lied- und Songtexte …. Und vor allem sollten die Gedichte uns in unseren gegenwärtigen Verhältnissen etwas sagen, also direkt und frisch zu uns sprechen – das können auch ältere Gedichte, die man wiederentdeckt“, erklärt Dirk von Petersdorff. Thematisch gebündelt verweisen die Kapitel von „Jugend und Alter“ bis zu „Trost und Tod“ und reichen in einem historischen Bogen von Walther von der Vogelweide bis zu Sven Regener von der Band „Element of Crime“. Am 24. März stellt das Lyrik Kabinett zusammen mit dem Verlag C.H. Beck den neuen „Der Ewige Brunnen“ vor. Der Schauspieler Hanns Zischler liest ausgewählte Gedichte und Sandra Kegel, Feuilletonchefin der FAZ, moderiert.

Was Lyrik heute noch soll, wird spätestens klar, wenn der Name Rainer Maria Rilke fällt.

Der 1969 in Dresden geborene Autor und Theologe Christian Lehnert sagt über Rainer Maria Rilke, mit dem ihn eine jahrzehntelange Auseinandersetzung verbindet: „Die Gedichte von Rainer Maria Rilke sind sprachliche Tonkunst. Doch hat ihre Musikalität zugleich eine Eigenart, die ich so von keinem anderen Dichter kenne: Sie ist verwoben in dichte Bilderfolgen, und so beginnt sich das Sichtbare mit den Klängen zu regen und Rilkes Verse werden zu Tänzen. Rilkes Versfüße tanzen in den freien Metren geschmeidig und überraschend wie die Ausdruckstänzerinnen seiner Zeit.“ Lehnert pflegt ein ambivalentes Verhältnis zu Rilke. In muffigen Kellerräumen unter einem Schwimmbad im Dresdener Stadtteil Pieschen, die der Stadtteilbibliothek dienten, habe er als Kind Reclam-Bändchen mit Gedichten von Rilke das erste Mal entdeckt. Der Fund habe ihn als Vierzehnjährigen „zufällig und ungeschützt getroffen“. Am 1. März spricht Lehnert in der Reihe „Zwiesprachen“ über sein Verhältnis zu Rilke. „Vielleicht“, sagt er, „trage ich hier bei Rilke nur meine eigene Sehnsucht ein, eine magische Sehnsucht nach einem ursprachlichen Sprechen, das sich wie ein ritueller Tanz entfalten kann und eine andere Welt hervorbringt“.

In einer Zeit von durchrationalisierter Sprache und von Algorithmen eines verstümmelten Wortschatzes wird die Kraft poetischer Sprache zum einzigartigen Hoffnungsschimmer. Eine Hoffnung, die möglicherweise der Fantasie jene Offenheit zurückgeben kann, die sie zum Weiterleben braucht. Und auch das ist es, was Lyrik heute noch soll.

* aus Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien, Zehnte Elegie, Vers 109

Mehr zu den Veranstaltungen: www.lyrik-kabinett.de/veranstaltungen/