Ein Hut

Ein Hut trat auf die Straße
mit großem Schwung und Mut,
trug einen Mann spazieren
und fand das fein und klug.
Der Hut schickt‘ ihn des Weges,
wie wenn er sein Rekrut,
beguckte sich die Gegend,
als säße er im Zug.

Das Korn

für Michael Augustin

Das Nashorn
trägt die Nase vorn.
Nicht ungewöhnlich.

Doch auf dem Nashorn-Horn
sitzt vorn ein Korn.
Echt tierisch dämlich.

Trotz Nashorn-Zorn
fällt’s Korn nicht ab da vorn vom Horn.
Der Reim klebt‘s fest persönlich.

 

Nachtgesicht

Gegenüber brennt ein Licht.
Wer dort wohnt? Ich weiß es nicht.

Ob er zu mir rüberguckt,
mich entdeckt, zusammenzuckt?

So wie ich, wenn ich ihn sehe,
mich sofort vom Fenster drehe

und die Lampe mache aus.
Schaut er trotzdem weiter raus?

Oder löscht auch er sein Licht –
malt sich aus mein Nachtgesicht?

 

Niemand

            auf ein Schwabinger Klingelschild

Draußen steht Niemand.
Niemand klingelt.
Niemand wartet.

Niemand will mich in den Arm nehmen.
Niemand will für mich da sein.
Niemand will mir erzählen.
Niemand will, dass ich lache.
Niemand will, dass ich träume.

Niemand will träumen.
Niemand will lachen.
Niemand will, dass ich erzähle.
Niemand will, dass ich da bin.
Niemand will in meinen Arm.

Niemand wartet.
Niemand klingelt.
Niemand ist da.

Federlese

Mein Engel zählt seine Federn,
die schönen mit weichem Flaum.

Sein Körper ist uralt und ledern,
er fliegt mir durch meinen Traum.

Ich lebe in schwarzgrünen Zedern
und halte die Vögel im Zaum.

Sie wollen die Blätter zerfledern
und stürmen hinaus in den Raum.

Ich sammle die taumelnden Federn
und hänge sie neu in den Baum.

 

Uwe-Michael Gutzschhahn, geb. 1952, lebt seit 25 Jahren als Übersetzer und Lyriker in München. Zuletzt erschien von ihm der Gedichtband „Die Muße der Mäuse“ (2018).