Uwe Timm und die Nicht-Orte

Von Katrin Diehl

Für Uwe Timm haben Utopien etwas Anziehendes. Sie interessieren ihn. In seinem gerade neu erschienenen Buch „Der Verrückte in den Dünen. Über Utopie und Literatur“ nimmt er sich – verlässlich ausgerüstet mit Ernst Blochs „Das Prinzip Hoffnung“ – der literatisierten Utopien, Gegenwelten und Sehnsüchte nach diesen Gegenwelten an. Seine Tour d’Horizon geht von Thomas Morus‘ „Utopia“ über Defoes „Robinson Crusoe“ und Kleists „Erdbeben in Chili“ bis hin zu Étienne Cabets „Ikarien“. Utopische Weltentwürfe, das macht Timm klar, lassen Schlüsse auf Mängel im jeweiligen Hier und Jetzt zu, weisen auf soziale Ungerechtigkeiten hin, Schlechtigkeiten, dunkle Seiten, die eben das Verlangen nach Veränderungen ein wenig maßlos werden lassen können. Die Utopie also als eine Form der Gesellschaftkritik, die sich in Literatur niederschlägt. Das kleine Wörtchen „noch“ – „noch ist dies oder das zwar nicht so oder so, aber wartet nur …“ –, das jeder Utopie innewohnt, wischt Uwe Timm nicht einfach hemdsärmelig vom Tisch. Dafür steht er der Utopie als Ideengeberin viel zu nahe, dafür zieht sie sich als Dreh- und Angelpunkt viel zu häufig (von „Der Schlangenbaum“ aus dem Jahr 1986 bis zu „Ikarien“ von 2017) durch sein eigenes literarisches Werk. Gerade ist Uwe Timm, der zu den wichtigsten, meistgelesenen deutschen Autoren gehört, 80 Jahre alt geworden und wie die Neuerscheinung nahelegt, scheint er weiterhin auf der Suche nach „Orten“ zu sein, an denen sich „bessere, also gerechtere, freiere, lustvollere Möglichkeiten des Zusammenlebens finden“. Könnte am Ende ja die Literatur selbst sein. Das Lesen als Möglichkeit, utopische Räume zu betreten: „Im Sessel oder auf der Bank sitzend, wandeln wir mit Leopold Bloom durch Dublin oder mit Franz Biberkopf durch das Berlin der Zwanzigerjahre. Literatur ist der ou tópos, der Nicht-Ort. Die Utopie ist der unwirkliche Ort.“

Auch Südamerika hat für Uwe Timm gefühlt schon immer etwas Anziehendes, was sicherlich mit seiner Ehefrau Dagmar Ploetz, einer Deutsch-Argentinierin, zu tun hat. Wie er sich überhaupt immer gerne Inspiration irgendwo auf der Welt – nah oder fern – holte, in seinen Reisetagebüchern festhielt (zum Beispiel in seinen Romaufzeichnungen „Vogel, friß die Feigen nicht“ aus dem Jahr 1989). So fand auch die Reportage „Reise nach Paraguay 1984“ Eingang in den aktuellen Band, die bereits schon einmal vor über 30 Jahren und in voller Länge in der Zeitschrift „konkret“ erschienen ist, ergänzt jetzt durch „Reise nach Paraguay 2010“. Wer mag, kann darin Spuren eines utopischen Gedankens finden, unabdingbar ist das nicht, wie generell einige der Aufsätze, Essays, literarischen Betrachtungen … ein wenig unter den Titel gezwungen wurden, bereits woanders zu lesen oder als Rede zu hören waren. Sicher gibt es auch Engführungen zu Timms Poetik-Vorlesung in Tübingen im November 2018.

Sei’s drum. Der 80ste legte das Datum vor und da musste etwas her. Umso mehr hoffen und vermuten wir, dass nach drei Jahren Ruhe bald ein nächster Roman von Uwe Timm erscheinen wird. Denn er ist ein großartiger Schreiber, der in klarer, unaufgeregter Sprache Alltag wie Ausbrüche aus eben diesem nebeneinander stellt. Dahinter steckt Beobachtungskunst. Am stärksten kam Timm immer rüber, wenn sich die eigene Lebenserfahrung, die eigene Lebensgeschichte durchdrückten, seine 60er Jahre Studentenzeit in München, Paris, Hamburg …, die Entdeckung der Unabhängigkeit, die Möglichkeit des Reflektierens über den Vater, einer der vielen Kriegsheimkehrer, den Bruder, der sich 1942 mit 18 Jahren freiwillig zur SS gemeldet hatte, der „Totenkopf-Division“ beitrat und 1943 schwer verwundet starb (daraus ist 2003 „Am Beispiel meines Bruders“ geworden). Timm lässt nachempfinden, was er empfand: die große Freiheit des Lernens, die Freiheit, sich einfach so von einem in den nächsten Hörsaal begeben zu können, dort Neues zu erfahren. Die Universität als utopischer Ort, zumal für einen jungen Mann, der als gelernter Kürschner über die Erwachsenenbildung zur Hochschulreife gekommen war, der hier alles, was er sah und hörte aufsaugte, sich mitreißen und begeistern ließ. Bücher wie „Heißer Sommer“ (1974), „Kerbels Flucht“ (1980) oder „Rot“ (2002) sind daraus geworden, die immer von einer leichten, angenehmen, linken Briese durchweht werden. Geradezu zärtlich kam 2005 das schmale Bändchen „Der Freund und der Fremde“ daher über Timms Bekanntschaft, seine Berührungspunkte mit Benno Ohnesorg. In ihm erhalten – nach dem Mord an dem Studenten im Jahr 1967 – kleine Begegnungen ihren gebührenden Platz. Uwe Timm findet dafür Worte.

Wir gratulieren ihm, der neben Berlin ja auch in München zuhause ist, recht herzlich zum 80. Geburtstag.

Uwe Timm
Der Verrückte in den Dünen.
Über Utopie und Literatur
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020
250 Seiten
20 Euro