Von Nina Hölzl
Der Junge nähert sich mit schlurfenden Schritten und bleibt unbeholfen vor mir stehen. Seine Jeansjacke ist viel zu groß, seine Hose für meinen Geschmack zwei Nummern zu klein, und die weißen Turnschuhe mit drei Streifen fallen ihm schon fast von den Füßen. Zögernd und mit unsicherem Blick, der mich aus halb-geschlossenen Augen hinter verdunkelten Brillengläsern trifft, hebt er eine Hand und drückt leicht gegen mich. Als sich nichts bewegt, nimmt er auch die zweite Hand hinzu und fängt an, wild an mir zu rütteln – vor, zurück, nach vorne und wieder zurück. „Was macht er denn da?“ frage ich mich leicht panisch, obwohl er nicht der erste ist, der in dieser chaotisch grellen Halle nicht so recht weiß, wie er mich öffnen kann oder was er überhaupt mit mir anfängt. Nach etlichen Versuchen hat der junge Mann endlich die richtige Idee und zieht mich sachte nach rechts und links auseinander. Er tritt durch mich hindurch und zückt im selben Augenblick ein Gerät, mit dem er den füllig behängten Glasraum, zu dem ich die Eingangspforte geworden bin, zu fotografieren scheint. Mit trauriger Miene blicke ich mich um, betrachte den Raum, für den ich nun schon seit geraumer Zeit die Eingangstüre bin. „Auf dem Abstellgleis“, denke ich betrübt. Es ist ein schöner Raum, das muss ich zugeben, mit endlos hohen Decken und dem Charme einer längst vergangenen Zeit. Meiner Zeit.
Auch viele meiner alten Freunde sehe ich hier jeden Tag. Die brachial anmutenden, pilzartigen Lampen dort hinten beispielsweise, die bei Nacht viele der abseits gelegenen Betriebsbahnhöfe erhellt hatten, auf denen wir damals zum Schlafen abgestellt wurden. Die Leuchten, die ihre Strahlen früher von haushohen Masten auf uns herunterwarfen, scheinen hier heute vor allem wegen der unkonventionellen Holzstative beliebt zu sein, auf die sie nun montiert sind. Oder die liebevoll verstrebte Holzbank da drüben, die ich beinah’ an jedem Bahnhof gesehen hatte, an dem ich einst zum Stehen kam. Man sieht ihr ihr Alter kaum an, so fest und glänzend steht sie da. Eine Dame setzt sich gerade auf sie, um für ein Bild zu posieren, das ihr Begleiter aus nächster Nähe aufnimmt. Die etwas ältere Blondine lacht etwas affektiert, als ob sie die Gebärde einer anderen Epoche imitieren wollte, in der man wohl so gelacht hat, wie sie womöglich meint. Ach, was wissen diese schlecht gekleideten Leute heute schon von damals. In ihrer eindimensionalen Romantisierung der Vergangenheit lassen sie uns zu hübschen Designstücken verkommen, die sich ob ihrer schieren Nutzlosigkeit zu Tode langweilen.
Es scheint mir erst gestern gewesen zu sein, als ich noch einen Sinn im Leben hatte. Jeden Morgen wachte ich auf und blickte auf einen Tag voller Ereignisse, voller Vielfalt, voller Abenteuer. Die ganz Stadt bekam ich zu sehen, mit ihren verschnörkelten Prachtbauten, ihren verzweigten Wasseradern und ihren endlosen Grünanlagen. Und die Menschen, ach wie ich die Menschen vermisse. Die Männer mit ihren eleganten Hüten und polierten Schuhen und die Damen mit ihren adretten Kleidern und den verruchten Zigarettenspitzen in ihren rot bemalten Mündern. Eine famose Aufgabe, diese Leute Tag ein Tag aus zu begrüßen und nach einer längeren oder kürzeren Fahrt wieder in den wilden Alltag der Großstadt entlassen zu dürfen. Sie für einen kurzen Moment auf ihrem Weg zu begleiten, zur Arbeit, nach Hause, ins Tanzlokal, an den See, war für mich das Höchste. Diese Menschen hatten sich noch etwas zu sagen, scheint mir. Oder tauschten zumindest höfliche Blicke aus, und machten auch mal eine Albernheit auf offener Straße. Die Herren ließen den Frauen noch den Vortritt und auf dem Bahnsteig tauschte man sich stets aufgeregt über das aktuelle Geschehen aus. Wie sehr mich die Zeitungsjungen mit ihren Schiebermützen belustigten, die den um sie fließenden Menschenmassen die Neuigkeiten des Tages zuriefen. Und der Wind! Der Wind auf meinen Fenstern, durch die die Fahrgäste der vorbei rauschenden Stadt zusahen. Nach Aufbruch hat dieser Wind gerochen und selbst an den grauen, regnerischen Tagen hab’ ich den Geschmack davon geliebt. Doch irgendwann mussten wir Alten den Jungen weichen, auseinander geschraubt wurden wir. Ich hatte Glück, dass ich nicht wie die anderen verschrottet wurde.
Da scheint dieses Museum, in dem ich nun stehe, die bessere Alternative zu sein. Und doch fühle ich mich schwer, so bewegungslos in einem der ungezählten Hinterhöfe dieser Stadt. Meist unbeachtet von den schweigenden Menschen, die an mir vorüber gehen, da sie vom Überfluss an historischen Kuriositäten an diesem Ort vollkommen überwältigt sind. Nur hier und da halten sie inne und blicken mich geradewegs an, mit jenem melancholisch sehnsuchtsvollen Blick, der sich in eine andere Zeit wünscht – in der alles besser war, oder zumindest charmanter, oder wenigstens stilvoller. Oh, wie ich diese Blicke hasse! Sie ähneln zu sehr meinem eigenen Gefühl.