Von Katrin Diehl
Andrej Kurkow gehört zu den bekanntesten Schriftstellern der Ukraine. Ob er sich einen ukrainischen oder einen russischen Schriftsteller nennt, hängt von der Lage seines Landes ab, aber auch davon, vor wem er gerade spricht. Geboren wurde er 1961 in Sankt Petersburg, aufgewachsen ist er in der Ukraine, wo er bis zum Angriffskrieg Russlands im Februar 2022 in Kyjiw gelebt hat. Er schrieb und schreibt schon immer auf Russisch, gehört damit zur großen russischsprachigen Bevölkerung des Landes. Im November des vergangenen Jahres hat Andrej Kurkow in München den Geschwister-Scholl-Preis entgegengenommen, war Gast beim Literaturfest im Literaturhaus.
Kurkow spricht (in x Sprachen) gerade vor vielen, spricht gefühlt vor ganzen Ländern, denn um Länder, die endlich verstehen sollen, geht es, einmal mehr in Zeiten des Kriegs. Kurkow ist viel unterwegs, um uns Außenstehenden zu vermitteln, was da eigentlich geschieht in seinem Land, mit dem er in engem Kontakt steht. Ihm ist, wie einigen, die Rolle eines Botschafters zugewachsen, der besonders gute Chancen hat, gehört zu werden, weil er weniger berichtet als erzählt, weil er sich seinen Humor offensichtlich nicht so leicht nehmen lässt, weil er den Überblick behält, ohne die vielsagenden Details aus den Augen zu verlieren, und weil er einiges von europäischer Geschichte versteht.
Andrej Kurkow führt Tagebuch. Er tut das schon länger und also hätten wir schon viel länger wissen können, was sich da anbahnte in der Ukraine. Er schreibt, ohne zu appellieren, tut dies mit viel Gefühl für sprechende Szenen. Er erzählt von Kleinigkeiten, die Abbild sind vom großen Ganzen, mit denen man sich arrangiert, weil man ja auch einen Alltag braucht. Seine Tagebuchtexte sind nach außen gerichtet, kreisen nicht so sehr um eigene Privatheiten. Sie erfolgen lose, ohne die strenge Auflage, jeden Tag, etwas notieren zu müssen. Es können Tage vergehen, es vergehen Tage, bis der nächste Eintrag erfolgt, dann aber in prosaischer Länge. Es geht um wache Beobachtungen, um laut Gedachtes. Es geht um die kleinen Ereignisse, um Gespräche unter Leuten, und Anekdoten machen sich ohnehin immer gut, um zu verdeutlichen, wie Land und Menschen ticken, denn von einem ist Kurkow augenzwinkernd überzeugt: Es gibt den Ukrainer, die Ukrainerin sowie es den Russen und die Russin gibt. Und dann fällt doch ein Satz sehr überraschend. „Die neue Realität in der Ukraine übertrifft meine schriftstellerische Vorstellungskraft bei Weitem“, notiert Kurkow, ungern dafür bereit, dass jetzt der Krieg die schwer einzuordnenden und originellen Ideen liefert und nicht mehr der Schriftstellerkopf.
Es gibt ein Davor und ein Danach. Es gibt vor dem Krieg und im Krieg. Ganz sauber zu trennen ist das nicht. Mit dem Krieg jedenfalls schauen wir endlich genauer hin: „Dieser Krieg hat die Ukraine der Welt verständlicher gemacht – die Welt versteht die Ukraine nun besser und erkennt sie eher als einen europäischen Staat an“, schreibt Kurkow. Ein hoher Preis. Für Putin jedenfalls ist die Ukraine „eine Erfindung Wladimir Lenins“. Das kennt man aus diesem Land, dass mal der, mal jener den Kopf für irgendetwas hinhalten muss. Der 24. Februar 2022 ist dann der Tag, der in den Geschichtsbüchern landen wird. Kurkow isst zusammen mit ein paar Journalisten Borscht. „Ich hoffte Putin würde unser Abendessen nicht stören. Das tat er auch nicht. Er beschloss stattdessen, am nächsten Morgen um 5:00 Uhr Raketen auf die Ukraine abzufeuern.“
Andrej Kurkow:
Tagebuch einer Invasion
352 Seiten, Broschur
Haymon Verlag, Wien 2022
19,90 Euro
ISBN 978-3-7099-8179-5