Ein literarisches Spiel in der Finsternis

Von Ursula Sautmann

Als Jakob mit seiner Mutter und seinem Vater, Georg Wilhelm Pabst, G. W. Pabst, im familieneigenen Schloss in Österreich ankommt, sind die Verhältnisse bereits verkehrt:  Der Hausmeister ist von unten nach oben gezogen, die Mutter muss schuften und die Familie des Hausmeisters bedienen. Jakob wird von den Hausmeistertöchtern gefesselt, nackt bis auf die Unterhose. Sie spielen Indianer. Jakob weint, als der Vater ihn rettet. Er besucht die Mittelschule und hat gelernt: Es ist gefährlich, in der Klasse unbeliebt zu sein. Es ist gefährlich, zu gut in der Schule zu sein, man muss es ausgleichen und jemandem wehtun. Er schlägt zu und sorgt dafür, dass niemand sieht, dass er einen Stein zu Hilfe genommen hat. Er legt den Arm um das Opfer und stellt klar, dass nur Feiglinge petzen. Und am Ende wundert er sich, dass man hinterhältig sein kann und einem dann nichts geschieht, wenn man Ritterlichkeit einfordert. Er lernt, dass er seine Angst nie, unter keinen Umständen, zeigen darf.

Jakob ist eine Romanfigur, die ins Herz schneidet. Eine von mehreren in „Lichtspiel“ von Daniel Kehlmann: Franz Wilzek, der Kameraassistent, der mit dem Missbrauch von Opfern des totalitären Regimes als Statisten im Film nicht fertig wird, Trude, die sowohl die Lage als auch ihren Ehemann Pabst durchschaut, der Hausmeister Jerzabek, der als Nazi endlich Macht hat, der NS-Scherge Kuno Krämer, der am Ende selbst abgeführt wird, die Teilnehmerinnen eines Literaturkreises, der sich ausnahmslos einem Nazi-Autor verpflichtet fühlt, und nicht zuletzt eben auch G. W. Pabst oder auch der „rote Pabst“, der Protagonist, um den sich alles dreht. Kehlmann kapert eine real existierende Person der Filmgeschichte und macht sie zu einem ebenso naiven wie geschäftstüchtigen Fahnenträger reiner, unpolitischer Kunst. Der Regisseur und seine Familie sitzen fest in Österreich, die Nazis haben das Sagen und verändern alles, auch und ganz besonders die Menschen.

Joseph Goebbels, dem Reichspropagandaleiter unter Hitler, hat der Autor die wohl eindrücklichste Szene des Buchs gewidmet. Pabst will filmen und wird einbestellt. Das Infame, das Perfide des nationalsozialistischen Systems bekommt ein Gesicht und eine filmreife Szene, in der Pabst die mächtige Figur doppelt sieht. Wo Gefühle der Angst die Protagonisten im Roman überschwemmen, wird es surreal. Die Frage brennt: Wie hätte man selbst sich verhalten?

Dem Roman „Lichtspiel“ des in München geborenen Autors Daniel Kehlmann kann man nur so viele Leserinnen und Leser wünschen wie möglich. Er ist spannend, er benutzt ganz eigene, aus dem Film entliehene Stilmittel, und er klärt auf über die Methoden totalitärer Systeme, ohne schulmeisterlich oder gar besserwisserisch zu sein. Die menschliche Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Erfolg, Geltung wird schamlos ebenso befördert wie ausgeplündert. Jedes einzelne Kapitel könnte eine Filmszene sein, ein „Lichtspiel“ eben. Und weil bereits über die Verfilmung des Romans gesprochen wird: Nein, nötig wäre das nicht – es gibt bereits einen Film, besser: viele Verfilmungen des Romans, in den Köpfen der Leserinnen und Leser. Den Verlockungen der Unterhaltungsindustrie muss ja nicht in jedem Fall nachgegeben werden.

Daniel Kehlmann:
Lichtspiel
Roman, 480 Seiten
Rowohlt Buchverlag
Hamburg 2023
26 Euro