Sind schon eine große Chance für Umarmungen, diese Zeiten der Covid-19-Pandemie, für große Verbal-Umarmungen des einen Präsidenten dort, des anderen Landesvaters hier, vor allem aber auch der vielen kleinen Großschwätzer, Nervensägen und Welterklärer, als wären eigentlich sie das Virus: Selbst gedanklich leblos aber sich ansaugend an fremde Lebewesen und diese zerstörend – naja, Moment mal, nun wollen wir aber doch nicht gleich übers Ziel schießen. Aber was ist das Ziel? Ganz klar: Der Impfstoff!
Und vorher: Innehalten, Streaming anklicken, Gedichte lesen, Rilke z. B., diese Duineser Elegien, etwa die zehnte, in der vom Postamt „am Sonntag“ die Rede ist, das zu ist, rein und „enttäuscht“ – ein enttäuschtes Postamt, also eine Sache als Subjekt, kann auch nur einem Lyriker einfallen, tolle Idee, das. Ein Haus, etwa, enttäuscht, dass der Bewohner geht.
Rilke hatte ja gerade das von Spanischer Grippe und revolutionären Umtrieben erfasste, ungeliebte München verlassen und beiden Ereignissen kaum Beachtung geschenkt, während Thomas Mann im Herbst 1918 immerhin in sein Tagebuch notierte „Es sind Ferien wegen der Grippe und die Kinder stören mich.“ Wobei? Nun ja, die „Idylle“ Herr und Hund sollte fertig werden, die berüchtigten „Betrachtungen“ waren abgeschlossen. Die Spanische Grippe 1918/19 hat zwar weltweit etwa 50 Millionen Menschen das Leben gekostet, aber kaum Spuren im „kollektiven deutschen Gedächtnis“ hinterlassen, wie es so schön heißt. Auch in der Literatur nicht.
Das Traurige: Einen Impfstoff gegen die Besserwisser, die nervensägenden Alleserklärer werden sie nie finden. Verblüffend, dass selbst kluge Frauen bewundernd ihren Blick von unten nach oben an die Lippen des Allwissenden heften, selig lächelnd, großer Auftritt: Corona-Virus, Replikationsquote, Kurvenanstieg, Verdoppelung – es wimmelt nur so von „Virologen“! Allerdings, ohne den Humus weiblicher Bewunderung könnten die kaum gedeihen. Auch unter Schriftstellern keine Seltenheit, nein, wir wollen jetzt nicht über Günter Grass herfallen, obwohl – nein. Aber sein enger Verwandter, auch „Fonti“ genannt, der konnte seiner Gemahlin noch schreiben, wo’s langgeht, damals: „Du hast ein riesiges Talent, die Dinge nicht so zu sehen, wie sie sind“, und „Der Sinn für exakte Beobachtung fehlt dir“ (Fontane an Emilie am 21.7.1884). Leicht vorstellbar, wie das im Alltag aussah, beim Abendessen etwa. Man glaubt die Nervensägen förmlich vom Nachbarbalkon zu hören man kann sich kaum entziehen – höchstens mit dem Streaming-Angebot für Literatur: Jelinek liest „Die Pest“ von Camus!
Wer selbst das noch nicht ertragen mag: Es geht schon irgendwie weiter, 1918 gings doch auch! Der Landesvater hat (in seiner ersten großen Rede vom Balkon) versprochen „Wir lassen niemanden allein“ – auch das noch, es war ja zu befürchten.
W.H.