Pierre Jarawans neuer Roman über die Vergangenheitsbewältigung im Libanon 

Von Slávka Rude-Porubská

In der Programmreihe „München leuchtet“ hat Pierre Jarawan seinen neuen Roman noch vor dem Corona-Shutdown im Münchner Literaturhaus vorgestellt. Über den Schauplatz des Romans, Libanons Hauptstadt, ließe sich nach der Lektüre vielleicht behaupten: „Beirut hallt, vibriert, klingt, schallt – und schweigt zugleich“. Jarawan lässt gekonnt und in bildreicher Erzählweise Szenen des multikulturellen Beiruts aus mehreren Zeitebenen entstehen: Da ist einmal die pulsierende, mondäne Metropole der Zeit vor dem Bürgerkrieg, „die viele Religionen kennt“ und in der der Gesang des Muezzins und das Geläut der Kirchenglocken wie ein harmonischer Klangteppich über der Stadt schweben. Da ist die 15-jährige Phase des verheerenden Bürgerkriegs zwischen den Milizen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften von 1975 bis 1990, in der schon Kleinkinder „allein an der Veränderung der Tonhöhe“ unterschieden können, „ob eine Rakete auf das Viertel zukam oder es verließ, und welche Waffe sie abgefeuert hatte“. Da sind dann die Jahre des rasanten wirtschaftlichen Wiederaufbaus mit dem unaufhörlichen Baulärm der „Zementmischer und Generatoren, Hydraulikhämmer und Kreissägen, Schlagbohrer und Schweißgeräte“. Und schließlich umfasst der Roman auch die Zeitspanne des von „Grollen von Detonationen“ geprägten Abzugs Syriens aus dem Libanon 2005/06 sowie der Anfänge der politischen Umwälzungen im Arabischen Frühling 2011.

Diese Klangkulisse des vielstimmigen und von Jarawan sorgfältig vor Ort recherchierten politischen Geschehens, voller militärischer und ziviler Gewalt, lernen die LeserInnen aus der Perspektive des Ich-Erzählers Amin kennen. Er wird von seiner Großmutter Yara in Deutschland erzogen und kehrt mit ihr als Teenager Mitte der 1990er Jahre aus München nach Beirut zurück, wo er sich mit dem gleichaltrigen Jafar anfreundet und in das Mädchen Zahra verliebt. Amins Familiengeschichte ist zugleich der Knotenpunkt, an dem die Problematik des Erinnerns und des Verschweigens im Privaten wie auch Öffentlichen zusammenläuft: Sind seine Eltern 1981 tatsächlich bei einem Autounfall ums Leben gekommen, wie es in der von der Großmutter überlieferten Geschichte heißt? Oder gehört auch die Familie Elmaalouf zu der „Gemeinschaft der Suchenden“, also zu denjenigen Libanesen, die nach ihren seit dem Bürgerkrieg vermissten Angehörigen fahnden, Privatarchive gründen und eine Aufarbeitung der Kriegsverbrechen fordern? Wie und woran erinnert man sich in einem Land, in dem „jedwede Historie … trotz der sichtbaren Spuren, höchsten als stumme Bettlerin, die man verschämt ignorierte, am Straßenrand“ steht?

Bohrenden, notwendigen Fragen nach dem Schicksal der knapp 17.500 Vermissten – im Bürgerkrieg willkürlich Verschleppten, Gefolterten und womöglich Getöteten – begegnet Libanon bisher mit Verdrängung, das die belastenden Traumata „unbewusst und wortlos“ über Generationen hinweg weitergibt. Seitens der Staatsmacht wird die kollektive Amnesie sogar aktiv gefördert, etwa mit dem Amnestiegesetz G84/91, das Straffreiheit für die Bürgerkriegsverbrechen gewährt. Wo im Schweigen des offiziellen Diskurses „die Vermissten erneut verschwinden“, wo sich weder Rechtsprechung noch Geschichtsschreibung der Vergangenheitsbewältigung annehmen und auch keine anderen Instanzen Entwürfe kollektiver Erinnerungskultur erarbeiten, dort können Kunst und (literarisches) Erzählen die Leerstellen füllen, dem Unausgesprochenen und Weggesperrten eine Form und eine Stimme geben. So schafft die Großmutter Yara in ihren abstrakten Bildern, die sie mit „Argentinien“, „Chile“ oder „Tschad“ betitelt, Hinweise auf andere Länder, in denen Wahrheitsfindungskommissionen eingesetzt oder Kriegsverbrecherprozesse geführt wurden. So üben sich Amin und Jafar, der später nach Kanada flieht, in der Tradition der Hakawati, der Straßenerzählkunst des Nahen Ostens. Dieses Erzählen bietet in Parabeln oder Gleichnissen nicht die eine, endgültige Wahrheit „aus einer zerbrochenen Welt“, sondern holt die fragmentierten und subjektiven Erinnerungen Einzelner ins öffentliche Bewusstsein. Jarawans zweiter Roman transportiert viel geopolitisches und zeitgeschichtliches Wissen, regt zum Nachdenken über Exil und Kunst nach – und setzt diese komplexen Themen plastisch und souveräner in den miteinander verwobenen, wendungsreichen Geschichten rund um ein überzeugendes Figurenensemble um. Ein Buch, das wiederholte Lektüre lohnt.

Pierre Jarawan
Ein Lied für die Vermissten
Roman, gebunden, 464 Seiten

Berlin Verlag/Piper,
Berlin/München 2020, 22 Euro