Annika Domainko lässt den Täter sprechen

Von Ursula Sautmann

Es ist erst wenige Wochen alt, das Debüt von Annika Domainko mit dem Titel „Ungefähre Tage“, erschienen im Verlag C.H.Beck. Die Münchner Autorin hat es beim Festival Wortspiele im März im Ampére vorgestellt, Lesungen bestritten und Interviews gegeben. Sie hat Beachtung gefunden, und das aus gutem Grund.

Wer „Ungefähre Tage“ zur Hand nimmt, muss damit rechnen, in einen Zwiespalt zu geraten. Mit jeder Seite wächst die Spannung, die Fragezeichen im Kopf werden mehr und größer. Was soll man von diesem Erzähler halten, der ein Szenario entblättert, in das niemand hineingeraten möchte?

„Ungefähre Tage“ spielt in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie. Grün, ein Pfleger mit Erfahrung, trifft auf eine Patientin, der ärztlicherseits bescheinigt wird, sich in Hinblick auf Ort, Zeit und Raum nicht zuverlässig orientieren zu können. Das medizinische Fachvokabular, das die Autorin zitiert, will Eindeutigkeit und Zielstrebigkeit in Hinblick auf die Behandlungsmöglichkeiten vermitteln; die Patientin soll baldmöglichst auf die offene Station verlegt werden.

Grün erzählt in der Ich-Form von der Arbeit auf der Station, seiner kleinen Tochter und seiner Frau und vom Umgang mit der Patientin. Die Autorin produziert auf diese Weise eine Nähe, gar eine Komplizenschaft, die keine Leserin und auch kein Leser wollen kann. Denn Grün, selber beschädigt, nutzt die Abhängigkeit der Patientin auf der Suche nach Halt aus.

Annika Domainko, geboren 1988, hat Latinistik und Klassische Archäologie studiert, sich also mit den antiken Kulturen vor allem der Griechen und Römer beschäftigt. Sie hat in Heidelberg promoviert über das Thema „Uncertainty in Livy und Velleius“. Es ging dabei um die Spielräume, die die Vergangenheit den Analysten und Interpreten der Gegenwart bietet. Das Uneindeutige, Unbestimmte, Graue hat sie also schon lange fasziniert, und die Me-too-Debatte bietet ein weites Feld für Unsicherheit und Ungewissheit. Die Geschichte über einen Pfleger im Umfeld der Psychiatrie, die auf Verlässlichkeit und strikte Grenzen bauen muss, sei ihr jahrelang durch den Kopf gegangen, erzählt sie. Und dann, plötzlich, habe sie sie nur noch schreiben müssen. Das Ergebnis ist ein Psychogramm zweier Menschen mit Anleihen bei Raymond Queneau und Annie Ernaux und Verweisen auf das Temenos, den umgrenzten Bezirk in einem griechischen Heiligtum.

Allzu viel Zeit bleibt der Autorin fürs Schreiben in der Regel nicht. Nach der Promotion, nach einem Volontariat und einem Praktikum im Medienbereich war für die Autorin zunächst offen, wie es weitergeht. Sie entschied sich gegen die Wissenschaft und auch gegen den Journalismus und übernahm bei Hanser das Sachbuchlektorat, das offenbar immer wieder auch Anregungen für die Fiktion im Roman bietet. Denn das nächste Werk deutet sich bereits an. Nicht Archäologie, sondern Astronomie soll der Anker der Geschichte sein. Mehr will die Autorin nicht verraten.

Die Autorin, das erschließt sich im Gespräch, freut sich über Kontakt zu ihren Leser*innen, erzählt von interessanten Fragen und einer bevorstehenden Lesung in ihrer Heimatbuchhandlung in Wadern im Saarland im Mai. Dort kennt man sie, dort wird sie sich mit ihrem Roman noch einmal ganz anders präsentieren können. Für das Europäische Festival des Debütromans im Literaturhaus Kiel hat sie bereits einige Kapitel aus „Ungefähre Tage“ ins Englische übersetzt.

Wenn Annika Domainko gerade einmal nicht schreibt und nicht lektoriert, dann packt sie ihren Rucksack und reist durch unbekannte Gegenden. Usbekistan, Albanien, Kosovo, Israel, Kambodscha waren ihre Reiseziele. Bücher sind immer dabei, denn Bücher, sagt sie, machten es möglich, die Welt neu zu verstehen. Und was könnte Verstehen bedeuten in Hinblick auf den Krieg gegen die Ukraine? Die Autorin empfiehlt „Mesopotamien“ von Serhij Zhadan und „Vielleicht Esther“ von Katja Petrowskaja.In unserer Serie „Jung und schreibend“, in der wir junge Münchner Autor*innen vorstellen, porträtierten wir bisher Lisa Jeschke, Leander Steinkopf, Daniel Bayerstorfer, Katharina Adler, Benedikt Feiten, Caitlin van der Maas, Samuel Fischer-Glaser und Vladimir Kholodkov.