Ludwig Steinherr, Jahrgang 1962, schreibt vor allem Gedichte. Bisher sind dreiundzwanzig Lyrikbände von ihm erschienen, doch in jüngster Zeit auch Novellen und Theaterstücke. Was ihn antreibt, ist die Begeisterung für Menschen, Situationen und Augenblicke. Er versucht dabei, so rasch und spontan wie möglich zu schreiben. Inspiriert von der ZEN-Kunst des Bogenschießens, die anstelle des langen Zielens die Meditation und dann den blitzschnellen Schuss setzt. Auch die Kunst des Renaissancemalers Fra Angelico fasziniert ihn, von dem es heißt, dass er nie einen Pinselstrich korrigiert habe, da er der Meinung gewesen sei, Gott wolle es so. Gleichzeitig versucht Steinherr, im Sinne einer „pittura metafisica“, noch in den alltäglichsten Dingen das Geheimnisvolle und Transzendente zu erblicken. Red

Ab und zu

öffne ich die Schublade
und schaue mir
Gottes Milchzähne an –

Wie zart, wie verletzlich
wie durchscheinend gegen das Licht –

Auch keine leichte Zeit damals
Dauernd kam Gott gelaufen
zerrte an meinem Ärmel und wollte etwas –
hatte eine Zecke
oder schlug sich die Knie blutig – 

Trotzdem.
Glauben war nie so einfach.

Haustier

Andere schaffen sich einen Hund an
um nicht einsam zu sein –
Gott das Universum
Wie drollig war es als Welpe
gleich nach dem Urknall
als es noch wild herumsprang, kläffte
mit dem Schwanz wedelte
und alles mit seinen winzigen Zähnchen
zerbiss –
Unfassbar, wie es gewachsen ist!
Gott wagt kaum noch
mit ihm spazieren zu gehen –
Es sträubt sich gegen jede Leine
obwohl es einen Maulkorb bräuchte –
Oft verschwindet es tief im Unterholz
und Gott schaut lieber nicht zu genau hin
was es in seinem Maul zurückbringt
An manchen Tagen hat er fast Angst
in Gegenwart dieses Monstrums einzunicken
so scharf blickt es ihn an –
Aber dann sind da die anderen Tage:
wenn die beiden zurückkehren
nach einem Regenspaziergang
Gott streift dem Universum
die feuchten Blätter von den Pfoten
und wenn er leise und gütig
mit ihm spricht
schaut ihn das Universum an
als verstünde es
jedes Wort

Ludwig Steinherr:
Zur Geburt einer Ming-Vase
Gedichte
Allitera, München 2021
19,90 Euro
ISBN 978-3-96233-306-5