Fünf Jahre war es her, dass sie, umdrängt von Bewunderern, ihn über Köpfe hinweg gegrüßt hatte. Oder, aus ernüchterter Sicht und vager, dass er hatte meinen können, sie habe ihn gegrüßt. Und nun gestern, dass sie erneut, diesmal in Salzburg, und wieder wie zufällig einander gegenüber saßen. Im Halbschatten ausgeblichener Markisen. Hoch über der Salzach. In einer zehrenden sommerlichen Wärme. In der er die Frau dort drüben, über Tische hinweg, kaum aus den Augen ließ. Wenn sie sich ordnend in die Locken griff. Wenn sie sich räkelte. Wenn sie den Arm hob und hinter dem Hals an ihren über den Nacken schaukelnden Haaren sichernd herumnestelte. Wenn sie den kurzen Ärmel ihres Kleides mit in die Höhe zog, – dass man ihr unter die Achsel hätte blicken können, – wie dieser Mensch dort, der ungeniert mit ihr tafelte, fast drei Jahrzehnte älter als sie, mit unrasierter Lippe, läppischem Lippenbärtchen, während er, Remarque, Zeit seines Lebens sich dort und sonstwo entmilitarisieren sollte, – und doch, das hatte dieser Fremdling voraus, dass er längst wusste, ob sich die Frau, die er sich anmaßte, der hier die brütende Hitze feucht unter die Achseln kroch, wenigstens unter den Armen schor, dort, fast schon auf halbem Weg aller Liebhaber. Alfred POLGAR, wie er sich nannte, – Remarque, er hätte ihn schütteln können, wie er sich hatte schütteln lassen müssen, um sich KRAMER schimpfen zu lassen, – gehässig schütteln! – bis schlicht so etwas wie POLACKE herauskommen musste! Wenn man es wie der faschistische Mob, wenn man es zeitgemäß nahm, so wie bei ihm.

 

Remarque, wäre er selbst nicht in Begleitung gewesen, er hätte sie angesprochen. Hätte sich einen der unbequemen Stühle genommen. Hätte sich zwischen sie gesetzt. Bis er dem Voyeur, diesem Achselgaffer da, lästig geworden wäre.

Sie waren später gekommen als er mit der Schwarzenbach. Waren auch früher gegangen. Er hatte den Kellner gefragt. Er hatte sich vergewissert:

»Kannten Sie den Herrn, dort, drei Tische weiter?«

»Ja. Herrn Polgar?«

»Alfred Polgar?«

»Ja. Frau Dietrich und der Herr Polgar waren gestern schon hier. Sie kannten ihn nicht? Und Frau Dietrich? Marlene Dietrich?«

»Nein, – nur aus der Presse. Aber heißt der Herr nicht mit bürgerlichem Namen schlicht Polak?«

Der Kellner bewahrte Fassung: »Entschuldigen Sie mich bitte!« Er hatte es plötzlich eilig.

Aber der andere, dieser sperrige Mensch da, mit den allein schon für den Austausch von Visitenkarten viel zu groß geratenen Händen, er hatte vermutet, er hatte gewusst, auf wen er hier stieß. Vielleicht wäre Polgar bei der Wahl eines Tisches, der ihm oder der Dietrich zusagte, an ihnen vorbei bis an das Ende, die Stirn der Terrasse gegangen. Hätte er nicht Remarque oder die Schwarzenbach erkannt. Er hatte Remarque nur kurz mustern müssen. War stehen geblieben. Hatte der Dietrich mit entschiedenen Gesten dann einen Tisch vorgeschlagen, an denen sie bereits vorüber gekommen waren. Drei Tische weiter. Drei Tische zurück. Zufall war es vielleicht, dass die Dietrich dann dort den Stuhl gewählt hatte, auf dem sie Remarque nicht die Schulter, gar den Rücken zeigte, vielmehr geriet er unmittelbar in ihr Blickfeld, über die Schulter ihres Begleiters hinweg. Doch die Distanz über die beiden trennenden Tische war zu groß, um sich gewiss zu sein, selbst wenn sie sich sahen, selbst wenn auch sie ihn wahrgenommen, ihn erkannt haben sollte, dass sie Blicke tauschten, zu denen sie sich bekannten. Lächelte sie? Falls sie überhaupt lächelte! Ja, jetzt wieder, wenn sie irgend etwas bestellte oder sich vorschlagen ließ. Weniger im Gespräch mit diesem Menschen, dem er nur in den kahlen Nacken, über die Schulter sehen konnte, auf die vergilbten Hände, die dieser verwitternde Mensch erstaunt, schwärmerisch heuchelnd, dann wieder beteuernd, abwehrend hoch reißen konnte, wenn die Dietrich die Schultern hob, zu zweifeln oder zu widersprechen schien, wenn sie herzlich lachte, – ja, lachte, wenn dieser Polgar da ihr mit den ungeschlachten Gesten seiner Hände irgendwelche süffisanten Komplimente machte. Allein, wenn man meinte, dass sie herüber sah, nein, wenn sie aufschaute, über die Schulter ihres Begleiters, über die beiden trennenden Tische, dass man denken, dass man sich fühlen machen wollte, man habe sich wiedergefunden: sie blickte wie selbstverloren. Wie verloschen. Wenn er dann wich, zur Seite ausbrach, den Kopf flüchtig wandte, die Schwarzenbach ansprach, um dieser knabenhaften Frau nicht auffällig zu werden, wenn er wie beiläufig dann über die Tische gegen das ferne Augenpaar zurückfand, schien ihm der Blick der Frau, die ihn einmal beim Namen gerufen hatte, unverwandt in eine Ferne gerichtet, in der sie auf seine Rückkehr gewartet zu haben schien.

Sooft er sich später auch fragte, er konnte sich an niemand erinnern, der an den beiden Tischen zwischen ihnen gesessen haben sollte. Es fiel ihm leichter, sich an zwei leere, abgeräumte Tische zu erinnern.
Hans Boeters

(Aus dem Remarque-Roman:  Schlafen in Luft, Wasser und Feuer)