Von Sven Heuchert

Ludwig Bürling hatte das Paar schon eine ganze Weile beobachtet. Anfangs waren sie durch die Abteilung mit den Kinderwagen geschlendert. Er schätzte sie auf Ende zwanzig. Sie redeten nicht viel miteinander, warfen sich hin und wieder Blicke zu. Schließlich blieben sie vor einem der Betten stehen. In all den Jahren hatte Bürling gelernt, nichts zu überstürzen. Also tat er so, als notiere er etwas in seine Kladde. Er wartete ab, bis der Mann sich bückte, um nach dem Preisanhänger zu suchen. Dann steckte er den Kugelschreiber in die Hemdtasche und ging zu ihnen.

„Kann ich vielleicht weiterhelfen?“ Sie sah ihn an und lächelte. Er antwortete: „Wir gucken nur. Trotzdem vielen Dank.“ Bürling zeigte auf das Babybett und sagte: „Eine sehr gute Wahl. Das Preisleistungsverhältnis – einfach unschlagbar.“ Der Mann nickte. „Wir überlegen noch.“ „Natürlich“, sagte Bürling. Ihm fiel auf, wie blass und hohlwangig die Frau war. „Wissen Sie schon, was es wird?“ Die Frau nahm seinen Blick auf und sagte: „Wir wollen es nicht wissen, nein.“

„Lassen sich also überraschen.“ „Es wird ein Junge“, sagte der Mann. Die Frau verdrehte die Augen. „Das kannst du nicht wissen.“ „Ich weiß es aber.“ Sie atmete scharf ein. Bürling räusperte sich und sagte: „Gut!“ Sie sahen ihn gleichzeitig an. „Vollholz“, sagte Bürling. „Hat im Ökotest sehr gut abgeschnitten – also nix mit Umweltgiften oder so. Aus’m Schwarzwald. Beste Qualität.“ Er klopfte gegen einen der Pfosten. „Für Jungen und Mädchen.“ Der Mann lächelte. „Sieht auf jeden Fall stabil aus.“ „Absolut“, sagte Bürling, „und lässt sich später problemlos zum Juniorbett umbauen.“ Die Frau hatte sich einige Schritte entfernt. Sie stand abseits und sah zu den Leuchtstoffröhren an der Decke. Der Mann fuhr prüfend mit der Hand über den Lattenrost. Bürling sah, wie die Frau ganz langsam den Gang hinunter ging. „Haben Sie dieses Modell vorrätig?“ Bürling nickte. Er konnte den Atem des Mannes riechen. Er wirkte auf einmal viel älter. Bürling bemerkte die Flecken auf seinem Hemd. „Das ist gut“, sagte der Mann. „Was meinen Sie?“ „Dass das Bett vorrätig ist.“ „Einer unserer Verkaufsschlager“, sagte Bürling. „Haben wir immer auf Lager.“ Der Mann nickte und drehte sich suchend um.

Sie sahen jetzt beide der Frau hinterher, die in dem langen schmalen Gang immer kleiner wurde, und Ludwig Bürling musste an die Schachtel Zigaretten denken, die seit Monaten in seiner Schreibtischschublade lag. „Ich bin mir noch unschlüssig“, sagte der Mann. „Sie wollen nicht so viel Geld ausgeben?“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht“, sagte er. „Das ist nicht das Problem.“ „Sie müssen sich nicht jetzt sofort entscheiden“, sagte Bürling. „So ein Bett ist ja schließlich eine langfristige Investition! Überlegen Sie einfach in Ruhe. Schlafen Sie eine Nacht drüber.“ Der Mann sah an ihm vorbei und sagte: „Manchmal kauft man ja auch Dinge, die man hinterher nicht mehr braucht – wissen Sie, was ich meine?“ „Ich weiß genau, was Sie meinen“, sagte Bürling. „Diese Betten haben allerdings kaum Wertverlust. Die sind nicht nur als Neuware begehrt.“ „Neuware“, wiederholte der Mann. Er sprach mehr zu sich selbst. Dann sah er Bürling an.

„Haben Sie Kinder?“ fragte er. „Einen Sohn. Schon erwachsen.“ „Haben Sie das also schon hinter sich“, sagte er. „An was erinnert man sich?“ „Wenn sie noch klein sind, davon bleibt am meisten.“ Der Mann nickte. „Mein Junge“, sagte Ludwig Bürling, „der ist mal von ’nem Altglascontainer gefallen, hinten bei uns auf’m Hof. Den wollten welche von der Stadt gerade entleeren, lagen überall Scherben rum. Keine Ahnung, wie er da überhaupt raufgekommen ist, der David. Jedenfalls hat er da rumgeturnt, und dann isser abgerutscht.“ Bürling zeigte auf seine Wange. „Steckte ’n Glassplitter drin, so lang wie ’ne Messerklinge.“ Er machte eine Pause und blickte in den Gang. Die Frau war nicht mehr zu sehen. „Na ja, so isset“, sagte er, „irgendwann sind se groß.“ „Ich denke, ich komme wieder“, sagte der Mann, und Bürling antwortete: „Gerne. Tun Sie das.“

Später saß er an seinem Schreibtisch und musterte die Schachtel Reval, die er in seiner Schublade verwahrt hatte. Er war erstaunt, wie ungewohnt das Gefühl an seinen Lippen war. Die letzte Zigarette hatte er vor über sechs Monaten geraucht. Er sah aus dem Fenster, der Parkplatz leerte sich allmählich. Er musste an das Pärchen denken, das beinahe das Bett gekauft hätte. Schließlich griff er zum Telefon und starrte auf die Tastatur. Er konnte sich nicht an die Nummer erinnern. Wenn er morgen wiederkommt, dachte Ludwig Bürling, wenn er wirklich wieder kommt, dann hör’ ich mit dem Rauchen auf.

Aus Sven Heuchert „Könige von Nichts“, Bernstein-Verlag Siegburg, 2019, mit freundlicher Genehmigung des Verlags