Henry David Thoreau suchte sie in der Natur. Er gilt als der Säulenheilige des amerikanischen Nature Writing.

Von Katrina Behrend Lesch

Muße zum wirklichen Leben“ wollte der Lehrer und Landvermesser Henry David Thoreau finden, als er sich 1845 am Waldensee in einer selbstgezimmerten Blockhütte für zweieinhalb Jahre in die Natur zurückzog. Fern von allem Komfort seiner Zeit, so dicht wie möglich am Naturgeschehen, das war das Ziel seines Experiments. Dass er damit zu einem Idol für ein Heer von Aussteigern wurde hätte ihn wahrscheinlich am meisten erstaunt. Zumal die wenigsten bei ihrer Suche nach der „wilden, unberührten Natur“ im Sinn hatten, worum es ihm ging. „Es kam auf das genaue Beobachten, Horchen, Fühlen, Schmecken an, auf das Registrieren und Vermessen, auch auf die Selbstbeobachtung und Selbsterkundung…“, so formuliert es Ludwig Fischer in seinem bei Matthes & Seitz erschienenen Buch „Natur im Sinn“. Fischer, von Haus aus Biologe und Philologe, widmet sich darin ausführlich dem Nature Writing, einer Literaturgattung, die sich in England und Amerika großer Beliebtheit erfreut, in Deutschland hingegen ein Nischendasein fristet. Das drückt sich schon im Namen aus, der sich nur höchst ungelenk ins Deutsche übersetzen lässt. Die Bücher, die sich neuerdings auf dem deutschen Buchmarkt zu Bestsellererfolgen aufschwingen, stammen zumeist aus dem angelsächsischen Sprachraum. 

Das war nicht immer so. Bereits Goethe schätzte seine Farbenlehre höher ein als sein gesamtes dichterisches Werk. In der Frühromantik flossen naturphilosophisches Denken, naturkundliche Betätigung und literarische Arbeit ganz selbstverständlich ineinander über. Novalis sah den Kern seines literarischen Schaffens unter anderem in der Suche nach der Verbindung von Wissenschaft und Poesie. Vor allem aber hat Alexander von Humboldt mit seinen naturkundlichen Werken die Entwicklung von Nature Writing angestoßen und wesentlich beeinflusst. Allerdings nur in den USA und Großbritannien, nicht jedoch in Deutschland. Und obwohl ihn schon seine Zeitgenossen für seine schriftstellerische Leistung feierten, sah Humboldt selbst seine „unglückliche Neigung zu dichterischen Formen“ als ein „Hauptgebrechen“ seiner Schreibweise an. In dieser „Selbstbezichtigung“ steckt für Ludwig Fischer bereits die Trennung zwischen wissenschaftlicher und literarischer Sprache, die damals in Deutschland ihren Anfang nahm und immer noch existiert. So pflegen deutsche Rezensenten die Poetik, die in der englischsprachigen Literatur naturwissenschaftliche Texte so überaus lesbar macht, skeptisch, gar als romantischen Kitsch zu bespötteln.

Doch genau das macht für den Literaturwissenschaftler Fischer wahres Nature Writing aus. Nicht nur, dass ein Autor Natur und Landschaft selbst erkunden muss, um seinen Texten den persönlichen, am eigenen Leib erfahrenen Anstrich zu geben, diese sollten darüber hinaus hohen literarisch-ästhetischen Ansprüchen genügen. Thoreau zitierend, postuliert Fischer, dass eine intensive, sozusagen existenzielle Naturerfahrung eine besondere „extravagante“ Schreibweise verlange. Denn sich einem Naturerlebnis auszuliefern, unter freiem Himmel zu schlafen, in die Sterne zu blicken, den Geräuschen der Nacht nicht ohne Schauder zu lauschen, sich ganz weit zu öffnen für eine andere neue Selbstwahrnehmung, derartiges lässt sich nur mit ungewöhnlichen sprachlichen Mitteln bewerkstelligen. Selber, schreibt Fischer, habe er sich mit seinem Buch sein eigenes Nature Writing-Projekt zugemutet.

In 33 Thesen erörtert er die Fragen nach den Grundlagen und den Zielsetzungen für ein Schreiben über Natur und erprobt es in eingestreuten erzählerischen Texten. Hochkomplex formuliertes Wissen über Geschichte und Charakteristiken von Nature Writing und ihren angelsächsischen Vertretern wie H. D. Thoreau, Roger Deakin, Robert Mc Farlane oder Helen Macdonald. Auch die deutschsprachigen analysiert Fischer sehr genau und klopft sie danach ab, ob sie des Begriffes würdig sind, angefangen bei Georg Forster und Alexander von Humboldt über Adalbert Stifter, Peter Kurzeck, Esther Kinsky, W. E. Sebald bis zu Judith Schalansky, die sich mit ihrer hochgelobten Sammlung von Erzählungen ‚Verzeichnis einiger Verluste‘ als eine der wichtigsten aktuellen Vertreterinnen ausweist. Seit sechs Jahren ist sie Mitherausgeberin der Reihe ‚Naturkunden‘ bei Matthes & Seitz, Bücher, die von Tieren, Pflanzen und Menschen handeln, von Landschaften, Steinen und Himmelskörpern, belebter und unbelebter Natur, liebevoll hergestellt, auf hochwertigem Papier gedruckt und reich bebildert. Die Naturfotografien zum Beispiel, mit denen das hier vorgestellte Buch ausgestattet ist und die vom Autor selbst stammen, führen einmal mehr vor Augen, was Schwarz-Weiß-Fotografie leisten kann. Heuer zum dritten Mal hat der Verlag den mit 10.000 Euro dotierten Deutschen Preis für Nature Writing ausgelobt. Marion Poschmann, die 2017 die Auszeichnung erhielt, drückt in ihrem Buch ‚Mondbetrachtung in mondloser Nacht‘ die Hoffnung aus, dass „die neuen Naturbilder in Zeiten von Globalisierung und Klimawandel … zu einer neuen Schule der Wahrnehmung werden.“

Man tut sich noch schwer mit dem rechten Ton für Nature Writing der deutschen Art. Bücher über Natur, übers Draußensein, den Wald vornehmlich, über Bienen, Vögel, Insekten und ihr Verschwinden gibt es reichlich. Aber meist sind sie von Experten geschrieben, Förstern, Imkern, Biologen, bei ihnen von einer extravaganten Schreibweise, Thoreau’s Verlangen, zu reden wäre abwegig. Oder es wird sich, gemäß deutscher Kulturidentität, schwärmerisch der Natur hingegeben und mit Gefühligkeit eingeseift. Politische, kulturgeschichtliche oder ökologische Reflektionen passen da nicht hinein. Das aber wären Impulse, die von Nature Writing ausgehen könnten, meint Ludwig Fischer – nicht nur für die Literatur, sondern für unser Verhältnis zu Natur und Umwelt im Zeitalter des Anthropozäns.

Ludwig Fischer
Natur im Sinn
Naturwahrnehmung und Literatur
Sachbuch, 352 Seiten
Matthes & Seitz, Berlin 2019
30 Euro