Günther Gerstenbergs Anmerkungen zum Umsturz und den Räterepubliken 1918/19

Von Bernd Zabel

Der Schriftsteller, Historiker und Künstler Günther Gerstenberg ist in München kein Unbekannter. Als Angehöriger der 68er Generation war er in den 80er Jahren an der Gründung des Archivs der Münchner Arbeiterbewegung beteiligt und arbeitet an dem neueren Projekt „Protest in München von 1945 bis in die Gegenwart“ mit. Sein Buch über die Räterepublik ist keine durchgehende Darstellung, es  versammelt Aufsätze zu verschiedenen Aspekten der Revolution, darunter auch Kapitel zur Situation der Frauen, zur Rolle der Kirche und zur Spiegelung der Ereignisse in der Karikatur. 

Für sein Buch hat der Autor tief in den Archiven gegraben und eine Vielzahl an Originaldokumenten und Bildern zu Tage gefördert, die er für sich selbst sprechen lässt, aber auch sachkundig zu kommentieren weiß. Die Hauptthese des Buchs ist dabei nicht neu: Das Bündnis der Sozialdemokraten mit dem nationalistischen Militär verhinderte alle Alternativen zur Errichtung einer bürgerlichen Republik. Der Vernichtungsfeldzug traf sogar die sozialdemokratische Anhängerschaft, die zu großen Teilen der Räteherrschaft gefolgt war, und er war siegreich, weil er über die effektivere Propaganda verfügte. Die Bevölkerung wurde mit von Flugzeugen abgeworfenen Flugblättern, durch die bürgerliche Presse und über großflächige Plakatierung mit „fake news“ überschüttet.

Die Räte versuchten mit beschränkten Mitteln dagegen zu halten. Eisner holte seinen Freund Gustav Landauer aus Berlin, um Volksaufklärungsprogramme zu starten. Möglichst viele Menschen sollten am Aufbau des neuen Systems beteiligt sein. Eisner wollte Staat und Gesellschaft von unten nach oben revolutionieren. Seine Programme lesen sich durchaus pragmatisch: Sozialisierung der Banken und Wohnungen, strikte Trennung von Staat und Kirche, Schaffung einer Frauenquote und Reformierung des Schulwesens. Die Räte waren keine Träumer und auch keine Terroristen, dazu wurden sie erst in der Gegenpropaganda gemacht, die so erfolgreich war, dass selbst noch heute viele Veröffentlichungen an diesem Bild festhalten. Der Klerus wirkte dabei eifrigst mit, fürchtete er doch um den Verlust seiner Pfründe und Privilegien.

Die Frauen hingegen, traditionell der Kirche zugetan, waren während des Kriegs in eine völlig neue Situation geraten. Sie hatten die Gesellschaft am Laufen gehalten und Arbeiten übernommen, die sie nach Kriegsende schleunigst wieder abgeben sollten, so dass sie ohne Verdienst da standen. Dagegen regte sich Widerstand, im Dezember 1918 entstand der „Bund sozialistischer Frauen“.

Das Nebeneinander gewählter Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte und der von Parteien repräsentierten alten Strukturen konnte nicht von Dauer sein. Zwar waren die Spitzenpositionen neu besetzt, doch der königliche Beamtenapparat arbeitete nahezu ungestört weiter. Dem Parlamentarismus mit seinem Mehrparteiensystem wollte Eisner mit den Räten eine Kontrollinstanz entgegensetzen. Er musste einen Spagat ausführen, der ihn letztlich in eine Sackgasse führte. Um den Mehrheitssozialisten unter Erhard Auer entgegen zu kommen, ließ er die Linken um Erich Mühsam im Januar 1919 sogar kurzfristig verhaften.

Bei den Wahlen zur „Verfassunggebenden Nationalversammlung“ am 19. Januar wurde die Regierung Eisner deutlich abgewählt. Das Kapitel Räterepublik wäre damit beendet gewesen, wenn nicht die Ermordung Eisners durch rechtsradikale Kräfte noch einmal eine Wende herbeigeführt hätte. In den darauf folgenden Wirren floh das amtierende Kabinett Hoffmann nach Bamberg und die vakante Regierung in München wurde von den Räten übernommen. Diese am 7.4.1919 ausgerufene zweite Räterepublik, jetzt unter der Führung der Kommunisten, war dann aber noch kurzlebiger. Sie mündete sehr rasch in eine Abwehrschlacht und die folgende Niederwerfung durch aus ganz Deutschland herbeigeeilte Freikorps. Die Kämpfe kosteten Tausende von Menschenleben.

Interessant am Buch Gerstenbergs sind die Passagen, wo er zu erklären versucht, warum es überhaupt zu den Räterepubliken gekommen ist. Objektiv betrachtet sprach nämlich alles dagegen, der politische und der militärische Apparat, die finanziellen Ressourcen, alles lag beim ancien régime. „Der Mensch war das Problem“, schreibt der Autor, „sowohl als Befehlender wie als Gehorchender entsprach er nicht mehr der Norm. Die Balance im feinen Gespinst zwischen Selbstdisziplin und Disziplinierung kam aus dem Takt und dann öffneten sich die Schleusen.“ Aber eben nicht weit genug, wie der Kommunist Eugen Leviné meinte, der aus Berlin nach  München gekommen war. So konnte weder eine revolutionäre Dynamik wie in Frankreich noch eine Diktatur des Proletariats wie in Russland entstehen. Das Spannende ist nur, dass viele politische Gedanken, die in der kurzen Zeit nach Kriegsende entwickelt wurden, auch heute noch Aktualität und Gültigkeit besitzen, so dass wir bei der Frage: „Was geschah vor 100 Jahren?“ nicht nur über ein Jubiläum nachzudenken haben.

Günther Gerstenberg
Räte in München – Anmerkungen zum Umsturz und zu den Räterepubliken 1918/19
Verlag Edition AV
24,50 Euro