Seit 2008 hat Michael Stephan das Stadtarchiv München geleitet. Jetzt ist er, von Mai dieses Jahres an, im Ruhestand. Gleich in den ersten Tagen des neuen Lebensabschnitts war er so freundlich, den LiteraturSeiten einen „persönlichen Rückblick“ zukommen zu lassen, der ganz nebenbei auch über die Funktion und Arbeit des Archivs, das sich in Schwabing in der Winzererstraße 68 befindet, Auskunft gibt.

von Michael Stephan

Das Stadtarchiv München ist ein traditionell direkt beim Oberbürgermeister ressortierendes städtisches Amt und fungiert als „Gedächtnis der Stadt“. Das geschieht in erster Linie durch die ausgewählte Übernahme, Erschließung und Bereitstellung von Unterlagen der gesamten Stadtverwaltung seit dem Mittelalter (und ist deshalb heute eine gesetzlich vorgeschriebene kommunale Pflichtaufgabe) – dazu kommt eine aktive Sammlungstätigkeit von Unterlagen aus Privatbesitz; alles aneinandergereiht käme man auf eine Strecke von 20 Kilometern.

In meiner Amtszeit wurden alle bisher nur analogen Findmittel und Datenbanken zu den Hunderten von verschiedenen Beständen digitalisiert. Mit dem weltweiten Online-Zugang über die Homepage des Stadtarchivs hat sich eine Recherche spürbar erleichtert und ermöglicht zudem den direkten Zugriff auf mittlerweile 40.000 hinterlegte Digitalisate (Endprodukte einer Digitalisierung, d. Red.) von Archivalien, zumeist Fotos und Plakate. Und für die nur noch digital entstehenden Unterlagen konnte im Stadtarchiv ein digitales Langzeitarchiv in Betrieb genommen werden.

Zu den Aufgaben des Stadtarchivs gehörten immer auch die Erforschung der Stadtgeschichte und die historisch-politische Bildungsarbeit in Form von Ausstellungen, Publikationen und Vorträgen. Die für mich wichtigste Neuerung war die Aufwertung der Erinnerungskultur. So wurde das in zwei Bänden gedruckte Gedenkbuch der ermordeten Münchner Jüdinnen und Juden auch im Internet zugänglich gemacht und es wird auch auf weitere Opfergruppen der NS-Zeit ausgedehnt. Dies geschieht durch das langfristige Forschungsprojekt „München im Nationalsozialismus. Kommunalverwaltung und Stadtgesellschaft“ in Kooperation mit der Ludwig-Maximilians-Universität (bisher fünf Bände erschienen), dann auch durch die dauerhafte Etablierung der „Koordinierungsstelle Erinnerungszeichen“, die sich mit großer Empathie um die Realisierung der vom Stadtrat favorisierten Tafeln beziehungsweise Stelen zum Gedenken an die Opfer des NS-Regimes in München kümmert. Eine weitere zukunftsweisende Neuerung war das zusammen mit dem Münchner Stadtmuseum betriebene Projekt „Migration bewegt die Stadt“, das mittlerweile zur Linienaufgabe des Stadtarchivs geworden ist. In der dafür begründeten eigenen Publikationsreihe ist gerade der vierte Band zu Münchens  migrantisch geprägter Gastronomie erschienen mit dem witzigen Titel „Zwei Kugeln süß-sauer mit scharf!“.

Bei den eigenen Aktivitäten lag mir immer auch das literarische Leben in dieser Stadt am Herzen: der „Kasperlgraf“ Franz von Pocci, Henrik Ibsen, Josef Ruederer, Thomas Mann, Schwabinger Bohème, frühe Anfänge von Dada in München sowie natürlich Karl Valentin; aus seiner 1939 vom Stadtarchiv angekauften und mittlerweile auch vollständig digitalisierten Bildersammlung konnten wir letztes Jahr den schönen Band über die „Münchner Originale“ präsentieren.

Ein Autor begleitet mich fast mein halbes archivarisches Leben: der bayerische Schriftsteller, Journalist und Volkskundler Georg Queri. Zum ersten Mal aufmerksam auf ihn wurde ich in meiner Zeit beim Staatsarchiv München – dort war ich von 1998 bis 2004 stellvertretender Leiter – durch die dortigen Akten der Polizeidirektion München. Gegen Queris volkskundliche Bücher, vor allem das 1912 erschienene „Kraftbayrisch. Ein Wörterbuch der erotischen Redensarten der Altbayern“, wurde wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften ermittelt und sogar ein Prozess geführt. Auch im Stadtarchiv München gibt es aufschlussreiche Dokumente zu Queri, so sein im Jahr 1900 angelegter Polizeilicher Meldebogen (s. Abbildung), einer von 1,2 Millionen aus den Jahren von 1830 bis 1928 – eine wichtige historische Quelle für biographische Forschungen. Von der von mir in der Reihe „edition monacenisa“ herausgegebenen Werkausgabe ist im Herbst 2019 der achte Band erschienen; dazu kommen mit dem kongenialen Sprecher Bernhard Butz bis heute über 50 Lesungen sowie vier Hör-CDs.

Ich freue mich noch auf die mit Hermann Wilhelm vorbereitete (und wegen der Corona-Krise verschobene) Ausstellung über die Fotografenfamilie Stuffler im Haidhausen-Museum und auf die im Druck befindliche Publikation der letztjährigen Stadtarchiv-Vortragsreihe zur Erinnerung an die Revolution und Rätezeit mit dem Titel „München zwischen Oktober 1918 bis Juli 1919“ (mit einem Beitrag von mir über die Kommunal- und Bürgermeisterwahl im Juni 1919).