Eine Ausstellung im Jüdischen Museum München zur Geschichte des Kinderbuchklassikers in Israel

Von Katrin Diehl

„Heidi“, das Mädchen aus den Bergen, ist ein Phänomen. Es ist die Verkörperung der Schweiz, ist allgegenwärtig wie das Matterhorn (übrigens kein Gipfel aus Heidis Graubündner Bergwelt). Außerdem ist „Heidi“ ein bemerkenswertes Stück Literatur, ein Klassiker, ein Buch der großen Gefühle wie der großen Natur, durchzogen mit religiös überhöhten Momenten, was aber nicht ganz ungewöhnlich ist für einen deutschsprachigen Erfolgsroman des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Geschrieben wurden die beiden Bände „Heidis Lehr- und Wanderjahre“ und „Heidi kann brauchen, was es gelernt hat“ von der Schweizer Autorin Johanna Spyri (1827-1901). Zum ersten Mal erschienen sind sie 1880 und 1881. Bis heute wurde das Buch, das später üblicherweise beide Bände umfasste, an die 60 Millionen Mal verkauft, wurde in über 70 Sprachen übersetzt… unter anderem auch ins Hebräische.

Das war 1946, zwei Jahre vor der Staatsgründung Israels. Die Karriere des Heidi-Buchs in Israel, dessen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, die vielen, nächsten Übersetzungen ins Hebräische, die Adaptionen… all das ist enorm vielsagend, äußerst gut erzähl- wie darstellbar, kann in beinahe idealer Weise entlang der israelischen Landesgeschichte gezeigt wie erklärt werden, erklärt selbst Landesgeschichte, die ja weit über die geografischen Grenzen hinaus geht. Und so wurde eine Ausstellung – „Heidi in Israel. Eine Spurensuche“ – daraus (Konzept: Peter O. Büttner, Peter Polzin, Kuratorin: Nurit Blatman), die im Herbst vergangenen Jahres in Kilchberg bei Zürich zu sehen gewesen ist, bestückt vor allem mit Beständen aus dem „Heidiseum“, einer Archivstätte – ebenfalls bei Zürich –, in der seit 2018 Dokumente und Nachlässe zu „Heidi“ und deren Autorin Spyri aufbewahrt wie wissenschaftlich begutachtet und aufbereitet werden.

„Heidi in Israel“ ist weitergezogen nach München, dort seit Ende März als äußerst kurzweilige Ausstellung im Jüdischen Museum am Sankt-Jakobs-Platz zu sehen. „Für unser Haus haben wir, was die Konzeption anbelangt, ein paar Veränderungen vorgenommen“, erklärt die Kuratorin Ulrike Heikaus. So habe man den historischen Bezug des Heidi-Buches zu Israel hervorgehoben, habe sich auf „assoziative Themen“ konzentriert, auf die unterschiedlichen Übersetzungen. Fragen zur Identität, der Verlust von Heimat, von Familie … all das seien Aspekte, die das Heidi-Buch anspräche und die „in Israel einfach gut funktioniert und ihren Widerhall gefunden haben,“ sagt Heikaus.

Die Ausstellung ist als ein Parkour entlang einer Zeitachse angelegt. Den Anfang macht die Autorin Johanna Spyri selbst, ihr Schreibtisch, ein Sekretär aus feinem Hause. An ihm könnte ihr Brief vom 23. Februar 1880 entstanden sein an den Münchner Maler Friedrich Wilhelm Pfeiffer.
Pfeiffer (ja!, der von der „Pferdegalerie“ im Nymphenburger Schloss…) sorgte ab der dritten Auflage für die Illustrationen von „Heidi“, die stark und über die Zeiten hinweg das Bild der Heidi-Welt geprägt haben.

Mit der Erstausgabe auf Hebräisch „betreten“ wir dann Palästina, Israel. Sie trägt den Titel „Heidi Bat HaAlpim“ (Heidi, Tochter der Alpen) und kam aus einem Tel Aviver Verlag. Ihr Übersetzter: Israel Fishman, ein Emigrant aus Weißrussland. Holzschnitt-Illustrationen von Moshe Matusovski, der von Warschau nach „Eretz Israel“ gekommen war, begleiten den Text. Als Ausgangstext diente Fishman nicht das deutsche Original, sondern eine Heidi-Übersetzung ins Französische. Um rundum positiv auf seine Leserschaft zu wirken, durfte inhaltlich nichts an Deutschland, dem Land der Verbrechen am jüdischen Volk, erinnern. Also wurde aus dem „Geissenpeter“ ein Geißen-„Pierre“ und Frankfurt war einfach „die große Stadt“, allein die gestrenge Haushälterin „Fräulein Rottenmeier“ behielt ihren deutschen Namen. Das Buch konnte auf Bekanntheit unter den deutschen Juden, die sich ins Land gerettet hatten, setzen. Aber auch der 1937 in den amerikanischen FOX-Studios produzierte Heidi-Film mit Shirley Temple in der Hauptrolle – er lief bis 1941 in den Kinohäusern Tel Avivs – hatte das Interesse am Buch wachgehalten. In den 50ern kommen neuere Übersetzungen auf den Markt. Aus der „Bat HaAlpim“ wird „Heidi Bat HeHarim“, „Heidi, Tochter der Berge“. Eine neue LeserInnen-Generation ist nachgewachsen, eine, die das deutsche Original nicht mehr kannte, die den engen Bezug zu den „geliebten Alpen“ vieler Shoah-Überlebender nicht mehr hatte. In den folgenden Jahren explodiert die Kommerzialisierung des Heidi-Stoffes, bunte, losgelöste Adaptionen gibt’s zu haben: Malbücher, Brettspiele, Sachbücher, illustre Heftchenreihen … Alles war geboten und führte zu einer schnellproduzier- wie schnellkonsumierbaren Ästhetik. Aber auch die lebendige, hoch ambitionierte Kibbuz-Bewegung mit ihrer eigenen, am Kind unter Kindern orientierten Bildsprache hatte Einfluss auf Inhalt wie Erscheinungsbild. Viele der jungen Kibbuzniks waren ja Waisen und das Leben mit der Natur, die Stärkung durch die Natur …, all das fand seine Parallelen bei „Heidi“. Und auch auf die Bühne kam der Stoff. Ein Folklore-Jäckchen eines kleinen Bühnen-Geißenpeters zeugt davon. Und auf Kassette gab’s Heidi dann auch zu hören, all das Produkte, die sich vom Original manchmal doch sehr entfernt hatten. Nur ein paar wenige Ausgaben suchten die Nähe zum Ursprungstext, dachten den literaturwissenschaftlichen Aspekt des Kinderbuchklassikers aus der Schweiz mit.

2020, und damit endet dann die kleine Wanderung durch die israelische Heidi-Welt, erscheint von Hanna Livnat eine „erste vollständige hebräische Übersetzung“ begleitet von strichfeinen Illustrationen der renommierten israelischen Künstlerin Batia Kolton. Heidi lebt weiter in Israel.

Heidi in Israel. Eine Spurensuche
Eine Ausstellung des Heidiseums in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum München
Sankt-Jakobs-Platz 16, 80331 München
Bis 16. Oktober 2022, Di. – So.: 10 – 18 Uhr, 6/3 €