KI und Digitalisierung, Neue Medien und sich ändernde Lesegewohnheiten. Immer weniger Lesende treffen auf immer mehr Bücher. Die Zukunftsaussichten für Verlage sind düster und die Kulturtechnik des Lesens stirbt aus.
Ein geschichtlicher Abriss.

Von Michael Berwanger

Im Gegensatz zu zentralistisch verwalteten Staaten wie England und Frankreich kommt in Deutschland erst ab 1871 (nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs) ein moderner Literaturmarkt zustande. Kleinstaaterei, Zölle und unterschiedliche Währungen haben ihn bis dahin verhindert. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts beginnt zum ersten Mal eine industriellen Massenproduktion von Büchern, die von modernen Verlagsunternehmen im gesamten deutschsprachigen Raum über Verlagsbuchhandlungen vertrieben werden.

Krieg, kurze Friedenszeit und dann wieder Krieg lassen nicht nur die Publikationszahlen stark sinken. Teilweise fallen die Zahlen auf das Niveau der 1870er Jahre zurück. Die Gleichschaltung der Medien in der NS-Zeit bewirkt die Flucht von vielen Intellektuellen bzw. ein Berufsverbot liberaler wie jüdischer Schriftsteller*innen.

Neuorientierung nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach der Befreiung von der faschistischen Diktatur kommt zwar – laut Alfred Andersch – eine „Tabula-rasa“-Stimmung bei jungen Schriftsteller*innen auf, aber sie trifft zum einen auf den erbärmlichen Nachkriegsalltag und zum anderen auf die Kontrollinstanzen der Siegermächte, die die Literaturproduktion in Deutschland lenken. Erst ab 1949 mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland ändert sich schlagartig die Situation. Traditionsverlage wie Brockhaus, Insel, Kiepenheuer, List oder Reclam wandern aus der sowjetischen Besatzungszone (der späteren DDR) ab, um ihre alten Lizenzen ohne politische Regulierung verwerten zu können. Seit 1952 gibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels eine jährlich durchgeführte Erhebung über das Produktionsvolumen des Westdeutschen Buchmarktes heraus. Diese zeigt einen rasanten Anstieg von rund 14.000 Titeln im Jahr 1951 zu über 60.000 Titel vor der Wiedervereinigung. Das Lesen von Büchern kann sich zu dieser Zeit noch gegen die Medienkonkurrenz von Hörfunk, Film und Fernsehen durchsetzen.

Mit Georg von Holtzbrinck und Reinhard Mohn taucht Anfang der 60er Jahre ein neuer Verlegertypus auf. Durch Aufkauf renommierter Verlage und neuer Vertriebswege – zum Beispiel Buchclubs – bilden sie Verlagskonzerne mit gigantischem Wachstumspotential (Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck, Bertelsmann-Gruppe). Der größte Coup gelingt Bertelsmann mit dem Aufkauf des amerikanischen Verlagshauses „Random House“ 2001, wodurch der Konzern nicht nur in Deutschland, sondern weltweit zum größten Verlag avancierte. Durch die Marktkonzentration umsatzstarker Titel gleichen sich allerdings die literarischen Programme der großen Verlage immer mehr einander an. Die Arbeit des Lektorats verschiebe sich von Text- und Autorenpflege hin zu mehr Vertriebs- und Vermarktungstätigkeit, so der Münchner Volkswirt Fritz Neske. Es ist jene Zeit, in der auf der einen Seite literarische Agenturen entstehen, die für Autor*innen Verträge verhandeln und die teilweise auch Lektoratsaufgaben übernehmen. Auf der anderen Seite sei es zum „Aufstand der Lektoren“ gekommen, wie Urs Widmer schreibt, damals Lektor im Suhrkamp Verlag. Da konkrete arbeitsrechtliche Forderungen kaum durchgesetzt werden können, verlassen zahlreiche Lektor*innen die Verlage. Noch 1997 wettern Horkheimer und Adorno: „Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit.“ In den 70er Jahren besetzen Alternativ- und Autorenverlage jenseits des Mainstreams die entstandene Lücke auf dem Markt der konventionellen Verlage. Protest, Anarchie und Innovation stehen dabei im Mittelpunkt.

Die Folgen der Digitalisierung

Der wohl entscheidendste Transformationsprozess geht aber von der seit etwa 25 Jahren wirkenden Digitalisierung aus, die ihr Potential in unterschiedlicher Geschwindigkeit entfaltet. Am weitesten fortgeschritten ist die Digitalisierung im Segment der Wissenschaftsliteratur (man denke an den Niedergang des Brockhaus-Lexikons), während sich die Belletristik trotz gegenteiliger Befürchtungen gegenüber digitalen Innovationen eher robust zeigt. Mit der Digitalisierung der Textproduktion verrutscht zudem das traditionelle Literaturverständnis. Der vereinfachte Zugriff auf den Text öffnet den Schreibraum auch für andere Personengruppen.

Nachdem der erste E-Reader, „Rocket eBook“, 1998 gescheitert ist, schafft Amazon 2011 mit dem „Kindle“ den Durchbruch. Auf dem deutschen Buchmarkt stößt Amazon durch seine aggressive Marktpolitik zwar auf Widerstand, kann sich aber seit 2014 durchsetzen.

Auf betriebsinterner Ebene versuchen Verlage seit ein paar Jahren mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz den Marktrückgang zu kompensieren. Die Software „Lisa“ soll das ökonomische Potential eines Manuskripts ermitteln, und das Programm „Qualifiction“ durchforstet die Texte nach vorher festgelegten Qualitätsmerkmalen. Der Erfolg soll dadurch quantitativ messbar werden. Mit dem Konzept „Publishing 4.0“, das die Buchwissenschaftler Jörn Fahsel und Svenja Hagenhoff erarbeitet haben und das als das Zukunftsmodell des Verlagswesens gehandelt wird, werden althergebrachte Abläufe von Textproduktion, Selektion, Herstellung und Verwertung überflüssig. Wie im „Industrie 4.0 Modell“ sollen im Internet der Echtzeit alle Prozessbeteiligten direkt in den Schreibprozess eingreifen können. Leser*innen konsumieren nach diesem Modell nicht mehr passiv, sondern sind „Prosumenten“, die sich sowohl auf Social-Media-Kanälen austauschen als sich auch ihre Medienprodukte auf Content-Plattformen selbst zusammenstellen können. Da dieses neue Modell hauptsächlich bei jungen „Digital-Natives“ Anklang findet, sind die Bereiche „Fantasy“ und „New-Adult“ die derzeit einzigen Segmente mit nennenswerten Zuwachsraten.

In gewisser Weise eröffnen die Strategien der großen Konzerne und die zunehmende Marktkrise Räume für neue Möglichkeiten. Mit der Jahrtausendwende entstehen zahlreiche Independent-Verlage, die mit ihren meist jungen Verleger*innen auf dem Buchmarkt die Funktion der Avantgarde erfüllen. Anders als die Alternativverlage der 1970er Jahre verfügen Independent-Verlage über einen hohen Professionalisierungsgrad und etablieren sich durch effizientes Netzwerken.

Streamen statt lesen

Dennoch steigt für alle am Markt Beteiligten der Druck, weil sie um immer weniger Leser*innen konkurrieren. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels belegt mit seiner Studie „Buchkäufer, quo vadis?“ die Buchmarktkrise durch klare Zahlen: Allein von 2012 bis 2016 sind den Verlagen rund sechs Millionen Buchkäufer*innen verloren gegangen. Der Anteil der Menschen, die Bücher kaufen, sank von 54 % auf 45 %. Digitale Medien haben das Buch als bevorzugtes Freizeitmedium längst abgelöst, gegen das „Binge-Watching“ von online gestreamten Serien erscheint die Buchlektüre träge. Auch das Bildungsversprechen der 1950er Jahre, wonach das Lesen, insbesondere der Klassiker, als Grundlage für gesellschaftlichen Aufstieg galt, hat sich überholt. Die heutige Gesellschaft bietet nicht mehr die gleichen Aufstiegschancen wie zu Adenauers Zeiten, und Bildung ist längst kein Garant mehr für Wohlstand.

Das Buch „Schreiben“ (2021) und der Essay „Im postliterarischen Zeitalter“ (2024) der Soziologin Carolin Amlinger bilden die Grundlage dieses Artikels.