Zwischen Ural und Kamtschatka
Von Katrina Behrend Lesch
Kälte, Straflager, Verbannung,– das verbindet man gemeinhin mit Sibirien, aber sicher nicht Klaviere. Die britische Journalistin Sophy Roberts belehrt uns eines Besseren. Beseelt von dem Gedanken, für die mongolische Pianistin Ogderel Sampilnorow einen Konzertflügel aufzuspüren, begibt sie sich zwischen Ural und Kamtschatka auf die Suche nach Sibiriens vergessenen Klavieren. So erfährt man, dass selbst in die entlegensten Orte dieses Riesenreichs, gefördert sowohl von Katharina der Großen als auch Lenin, die kulturelle Bildung vorgedrungen war und dass mit den Geschichten der Bechsteins, Broadwoods, Erards oder Stürzwages, die Roberts aufstöbert, die Geschichte Russlands eng verbunden ist. Unter der Hand ist so ein wunderbares Buch entstanden, in dem ein ganz neues Bild entworfen wird von einem auf den ersten Blick lebensfeindlichen Land, das sich entpuppt als „eine sprudelnde Quelle der Kultur, der Menschlichkeit und des moralischen Muts.“
Sophy Roberts:
Sibiriens vergessene Klaviere
Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer
Gebunden, 400 S.
Hanser, München 2020
26 Euro
Ein Überseekoffer
Von Michael Berwanger
Eine Wiederentdeckung. Der Verlag Friedenauer Presse hat in seiner liebevoll gestalteten Reihe „Wolffs Broschur“ den fast vergessenen italienischen Autor Alberto Vigevani (1918 – 1999) in deutscher Sprache veröffentlicht. Vigevani erzählt in seiner autobiografischen Novelle „Ein kurzer Spaziergang“ die Geschichte von Jule, Tante seiner Ehefrau Anna, und ihrem Mann Giorgetto. Auf der Suche nach seinem Frack findet Alberto auf dem Speicher seines Landhauses einen alten Überseekoffer, den ihnen Jule und Giorgetto zur Vermählung geschenkt hatten. Anfangs arglos treiben seine Gedanken um die fröhlichen Begegnungen, die der Überseekoffer – genannt „General“ – bei der Hochzeitsreise mit sich bringt. Aber tröpfchenweise sickern dunkle Erinnerungen an die – wegen des heraufziehenden Kriegs – verkürzte Reise und dem Auslandsverbot, da Anna jüdische Wurzeln hat. Letztlich wagen die Schenker, Jule und Giorgetto (wie Anna jüdischen Glaubens), einen vergeblichen Fluchtversuch, um drohender Deportation zu entkommen. Dabei beschreibt Vigevani das Grauen in meandernder, zarter Sprache, wie sie heute kaum noch zu lesen ist.
Alberto Vigevani: Ein kurzer Spaziergang
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider
Erzählung, Broschur 76 S.
Friedenauer Presse
Berlin 2021
16 Euro
Vielfalt am Lande
Von Stefanie Bürgers
Nah am Zeitgeschehen ist Zeh mit ihrem jüngsten Roman, der auf humorvolle Art und Weise die Wirkung von Corona-Pandemie wie Fridays-for-Future-Bewegung aufs Zwischenmenschliche beleuchtet. Dora und ihr Partner leben im Homeoffice-Modus, verbringen Tag und Nacht zusammen. Als Doras Partner Umweltbewusstsein zur Ideologie erhebt und bedingungslos Gefolgschaft fordert, flieht diese aufs Land. Die rettende Insel, ein Haus mit großem Garten in der Prignitz, birgt Überraschungen. Der Nachbar ist ein kontaktfreudiger Neonazi, ein vernachlässigtes Kind sucht distanzlos Gesellschaft und dann scheitert die erfolgreiche Marketingspezialistin auch noch fast beim Gemüseanbau. Die von Dora so ersehnte Entspannung auf dem Land gestaltet sich schwierig. Kann der „Dorf-Nazi“ ein Freund sein? Gegensätze prallen aufeinander, die sich in Dialogen mit Wort- und Mutterwitz entladen. Oft muss sich die wortgewandte Werbetexterin aus Berlin geschlagen geben.
Das Setting kommt zwar etwas konstruiert daher, aber dennoch verfängt es, mit Doras Augen zu sehen, die mehr und mehr dazu neigen, gelassen und vorurteilsfreier zu betrachten. Ein voyeuristischer Blick, bei dem man sich unbehaglich fühlt.
Juli Zeh:
Über Menschen
Roman, Gebunden, 416 S.
Luchterhand Verlag
München 2021
22 Euro
Unermüdlich hoch zwei
von Katrin Diehl
Die berühmte Ohrfeige, die Beate Klarsfeld Bundekanzler Kurt Georg Kiesinger am 7. November 1968 auf dem Bundesparteitag der CDU in Berlin verpasst hat, nicht ohne ihm zuvor das Wort „Nazi“ ins Gesicht gebrüllt zu haben, kommt zuerst. Und das ist gut so. Sonst hätte man Seite für Seite nur auf sie gewartet. So aber lässt sich konzentrieren auf alle Verfolgungsjagden auf alte Nazis, Massenmörder wie Lischka, Hagen, Barbie …, die sich geschickt davon gemacht hatten und an denen Deutschland nicht wirklich interessiert war. Das ist eine sehr wortlastige Graphic Novel geworden mit dem reißerischen deutschen Titel „Beate & Serge Klarsfeld. Die Nazijäger“ (im französischen Original heißt das Buch „Der Kampf gegen das Vergessen“), an manchen Stellen überbesetzt an Personal und doch so wichtig. Da wachsen zwei in ihrer Zielstrebigkeit über sich hinaus, erfüllen einen inneren Auftrag, vergreifen sich an illegalen Methoden, wenn’s denn gar nicht anders geht, und rütteln wach. Und das Ganze ist auch eine Liebesgeschichte, eigentliche Voraussetzung für alle Aktionen, was die Tatsache einmal mehr in den Vordergrund rückt, dass Serge Jude ist, sein Vater Auschwitz nicht überlebt hat, Beate dagegen Deutsche, also Kind von Tätern. Da haben sich zwei schicksalshaft gefunden.
Pascal Bresson,
Sylvain Dorange:
Beate & Serge Klarsfeld: Die Nazijäger
Graphic Novel, 200 S. Carlsen Verlag,
Hamburg 2021
28 Euro
Ein Stück Zeitgeschichte
Von Antonie Magen
Die Hauptfigur von Merle Krögers neuem Buch „Die Experten“ fotografiert leidenschaftlich gern. „Rita Hellberg macht Fotos“, heißt es am Anfang, und in der Tat spielt die Bilddokumentation für das Leben der Protagonistin eine große Rolle. 1961 geht sie mit ihrer Familie nach Kairo, nachdem sich ihr Vater entschieden hatte, dort als Ingenieur „deutsche Raketen für Nasser“ zu bauen. Die junge Frau ist fasziniert von der Wüste und dem Leben in Maadi, stellt aber bald fest, dass die exotische Idylle Risse hat: Nicht nur, dass sie Tür an Tür mit Naziverbrechern wie dem KZ-Arzt Hans Eisele lebt, vielmehr ist es die Arbeit ihres Vaters und bald auch die eigene als Sekretärin in einem Rüstungswerk, die dazu beitragen, dass die Lage im Nahen Osten einem „Pulverfass [gleicht], das jederzeit hochgehen kann“. Kröger erzählt von der Generation, die als 68er in die Geschichte eingegangen ist, und legt einen sorgfältig recherchierten historischen Roman vor, der Familien-, Entwicklungs- und Emanzipationsroman ist. Sprache, Figuren und Handlung werden erfreulich differenziert gestaltet – bei komplexen Themen wie dem Nahostkonflikt und deutscher Vergangenheitsbewältigung ein Zeugnis von großem literarischen Können.
Merle Kröger:
Die Experten
Roman, gebunden, 688 S.
Suhrkamp Verlag
Berlin 2021
20 Euro
Spätzle mit Kokosmilch
Von Slávka Rude-Porubská
Einem lustvollen Spiel mit geschichtlichen Fakten und literarischer Fiktion geht Michal Hvorecký in seinem neuesten Roman nach, in dem er nach dem Ersten Weltkrieg die Slowaken in die Südsee auswandern lässt. Auf den Stränden und im tropischen Dschungel von Tahiti soll das mitteleuropäische Volk neue Freiheit in Französisch-Polynesien finden, nachdem die Siegermächte in den Friedensverhandlungen von Versailles Slowakei dem nach Größe strebenden Ungarn zugeschlagen hatten, anstatt der Gründung der Tschechoslowakei zuzustimmen. Um der kulturellen Säuberung und gewaltsamen Magyarisierung zu entgehen, macht sich die gesamte Bevölkerung unter Führung des charismatischen Diplomaten und Wissenschaftlers Milan R. Štefánik als „Donaukarawane“ über Österreich, Deutschland und Frankreich auf den Weg ins vermeintliche Paradies. Raffiniert baut der Autor entlang dieser alternativen Geschichtsschreibung von „Neu-Slowakien“ im Roman kritische Verweise auf die politische Gegenwart ein – den erstarkenden Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Fluchterfahrung und kollektiven Heimatverlust oder die Aufarbeitung des Kolonialismus.
Michal Hvorecký:
Tahiti Utopia
Aus dem Slowakischen von Mirko Kraetsch
Roman, gebunden, 256 S.
Tropen, Stuttgart 2021
20 Euro
Wer siegen will, muss töten können
Von Ursula Sautmann
Die Psychologin Abigail, die Ich-Erzählerin in „Siegerin“ von Yishai Sarid, besucht Einheiten der israelischen Armee, um Soldaten in der Ausbildung die Angst vor dem Töten und besonders die Angst vor der Zeit danach zu nehmen, vor den Heimsuchungen und seelischen Nöten, die oft auf kriegerische Einsätze folgen. Abigails Beziehungen sind allesamt ihrem Auftrag untergeordnet, sie ist erfolgreich und einsam und am Ende konfrontiert mit der Tatsache, dass der eigene Sohn Hilfe braucht.
Yishai Sarid war selber als Nachrichtenoffizier in der israelischen Armee tätig. In „Monster“ (2019) befasst er sich mit der Erinnerungskultur in Auschwitz, in „Siegerin“ mit den seelischen Auswirkungen einer politischen Situation, in der der Krieg und damit auch der Tod allgegenwärtig sind. Die Sprache ist schnörkellos, Sarid urteilt nicht und bietet keine Lösung an, wohl aber ein tieferes Verständnis für das Land und seine Bewohner.
Yishai Sarid:
Siegerin
Aus dem Hebräischen von
Ruth Achlama
Roman, gebunden, 254 S.
Kein & Aber, Zürich 2021
22 Euro