Ein paar Nächte
Von Michael Berwanger
Der 35-jährige Holzbildhauer Ben wohnt mit seiner 12-jährigen Tochter Mia in einem ehemaligen Bauernhof. Immer samstags kommt eine Mittelschul-Klasse aus der benachbarten Kleinstadt zum Unterricht, was für Ben Freude und Herausforderung zugleich ist. Als sein Vater plötzlich an einem Freitagabend auftaucht, um „nur für ein paar Nächte“ bei ihm Unterschlupf zu finden – ein amouröses Abenteuer mit einer Kollegin hat seine Ehe aus dem Gleichgewicht gebracht – gerät Bens wackeliger Alltag aus dem Tritt. Nicht nur die Frage, warum er alleinerziehend ist, sondern auch die Erinnerungen an seine Kindheit und sein eigenes Unvermögen, Dinge klarzustellen, spielen plötzlich wieder eine Rolle. Der 1986 geborene Autor Fabian Neidhardt zeigt in seinem zweiten Roman, was Familie sein könnte und tatsächlich ist. Sein Roman ist dabei so vielschichtig und voller Wendungen, dass man beim Lesen ständig die klar erscheinenden (Vor-)Urteile revidieren muss.
Fabian Neidhardt:
Nur ein paar Nächte
Roman, 248 S.
Haymon Verlag
Innsbruck 2023
22,90 Euro
Urlaubsbilder
Von Sevda Cakir
Lütfiye Güzel findet ihren 2023 veröffentlichten Titel „ich.soll.ruhiger.werden.“ fragwürdig, doch das sollte die Leser*innen nicht abschrecken. Die Autorin ist bekannt für ihre auf den Punkt gearbeitete Komik. In den knapp 50 Seiten können Interessierte hautnah dabei sein, wenn in der Ich-Erzählung hochkommende Gefühle verarbeitet werden. Hat die Person eine Therapie besucht und folgt einer Schreib-Empfehlung? Ist das Heft deswegen fragwürdig? Diese Tagebuch-Spur, die die Schriftstellerin legt, wird nicht aufgelöst. Wichtiger ist, wie die Figur den Weg der Auseinandersetzung mit sich selbst beschreitet. Was sie unterwegs erlebt, verraten die empfindungsreichen Sätze. Sie laden dazu ein, wieder und wieder gelesen und neu betrachtet zu werden, wie Kunstwerke. Dafür ist endlich Zeit im Urlaub.
Lütfiye Güzel:
ich.soll.ruhiger.werden.
Paperback, 54 S.
go-gücel-publishing, 2023
12 Euro
Sich selbst überlassen
Von Markus Czeslik
Sie sind geflüchtet vor Krieg und Verfolgung und stranden in dieser Notunterkunft auf der anderen Seite des Flusses – voller Hoffnung auf ein neues Leben. Eine junge Psychologin meldet sich freiwillig, um zu helfen, und merkt, wie begrenzt ihre Möglichkeiten sind. Was sie erlebt und hier „wahrheitsgetreu“ wiedergeben will, lässt sie verzweifeln. Die Flüchtlinge werden „Gast“ genannt, doch durchläuft jeder von ihnen eine hocheffiziente Bürokratie. Immer steht die Frage im Raum: Wohin mit dir? Zur Beantwortung werden Schnelldiagnosen nach dem Lehrbuch erstellt, ICD-Schlüssel bemüht und Ängste und Depressionen in biochemische Prozesse übersetzt, damit sie ihren Schrecken verlieren. In ihrem Debüt zeichnet die Psychologin und Autorin Theresa Pleitner starke Einzelporträts und legt eindrucksvoll das moralische Dilemma derjenigen offen, die glauben, den Menschen zu schützen, und ihn am Ende doch sich selbst überlassen. Ein explosives gesellschaftliches Thema, lehrreich reflektiert.
Theresa Pleitner:
Über den Fluss
Roman, 208 S.
S. Fischer, Frankfurt 2023
22 Euro
Voilà: Georges Perec
Von Katrin Diehl
David Bellos’ Biografie über den französischen Schriftsteller und Sprachexperimentierer, Georges Perec (1936 – 1982), ist ein Ziegel von 700 Seiten, der seine wunderbare Zeit braucht. Perec-Verehrer werden sich ihn schnappen, schneller als man gucken kann. Denn so etwas fehlte: die genaue Auskunft über das Leben dieses ganz Außergewöhnlichen, die ihn, aber auch sein Werk, anders, klüger betrachten lässt. Und man will schon wissen, was das für einer war, der so verrückte Dinge machte, wie einen ganzen Roman, ohne ein „e“ zu schreiben („Anton Voyls Fortgang“), der sich auf eine Parkbank setzte und über Stunden hinweg einfach notierte, was er sah … Perec war ein stark Gebeutelter. Einer, den man als kleinen Jungen wegschickte, damit er nicht wie die Mutter vergast wurde (der Vater war bereits im Ersten Weltkrieg als Soldat gestorben). Bellos, der britische Litera-turwissenschaftler, geht ein großes Unternehmen groß-artig an. Perec hätte das Buch über sich gefallen.
David Bellos:
Georges Perec.
Ein Leben in Wörtern
Aus dem Englischen von Sabine Schulz, 703 S.
Diaphanes Verlag,
Berlin 2023
45 Euro
Am und im Meer
Von Ursula Sautmann
Wer gerade aufs Meer schaut, mag schaudern ob der Schrecknisse, die „Gentleman über Bord“ von Herbert Clyde Lewis heraufbeschwört. Aber mit Luftmatratze ist man ja auf der sicheren Seite. Ein Mann in den besten Jahren und in einer Lebenskrise tut einen falschen Schritt und fällt vom Schiff. Ein wunderbares Tableau der US-Gesellschaft in den 30er-Jahren tut sich auf, und es bleibt spannend bis zum Schluss. Der Beweis, dass Tragik und Komik Zwillinge sind, wird in diesem Werk des amerikanischen Reporters, Drehbuchautors und Schriftstellers Lewis auf höchst elegante und unterhaltsame Weise erbracht. Lange blieb die Charakter- und Gesellschaftsstudie unbeachtet. Jetzt wurde sie neu übersetzt und in einer Aufmachung, die man nur als Gentleman-like bezeichnen kann, auf den Markt gebracht. Als Urlaubslektüre ebenso geeignet wie als Zeitvertreib auf dem Sofa!
Herbert Clyde Lewis:
Gentleman über Bord
Roman. Aus dem Amerikanischen von Klaus Bonn Mit einem Nachwort von Jochen Schimmang, 176 S.
mareverlag, Hamburg 2023
28 Euro