Von Michael Berwanger
Wer nach den Anfängen der neuzeitlichen Reiseliteratur sucht, findet wahlweise die Namen Goethe oder Baedeker, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man das Thema betrachtet. Goethes 1788 erschienene „Italienische Reise“ markiert sicherlich einen der Ausgangspunkte der populären Reisebeschreibungen des 18. Jahrhunderts. Reisen war aber zu Goethes Zeit ein Privileg der Kaufleute, Adeligen und Literaten. Bessere Straßen, sicheres Geleit und ein dichteres Netz an Gasthäusern machten Reisen für diese elitäre Gruppe immer attraktiver, dennoch konnte das aufkommende Bürgertum nur in Gedanken und mit den Zeilen der Litertaten mitreisen.
Im Juni 1820 wurde im schlesischen Dorf Pilchow gegen Karl Baedeker Anzeige wegen „Landstreicherei“ erstattet, weil dieser versucht haben soll, „Mitteilungen über Bewohner, Anzahl der Pferde, Verkehr der Postkutschen, Viehbestand und alte Gebäude der Gegend auszufragen“, wie es im Polizeibericht heißt. Was da Missfallen erregte, waren im Grunde erste Recherchen des damals 19-Jährigen für sein von ihm geplantes „Handbuch für Schnellreisende“, das er ab 1835 herausgeben würde.
Für seine Bücher reiste Karl Baedeker an die beschriebenen Orte und sammelte zu allem Möglichen Informationen: zu Städten und Ortschaften, Museen, Gasthäusern, Wanderwegen und Fährverbindungen, zu den Preisen fürs Übersetzen ans andere Ufer, den Droschken-Fahrzeiten, Plänen, Karten und Skizzen – eben zu allem, was Reisenden von Nutzen sein konnte. Auch sparte er in seinen Beschreibungen nicht mit Hinweisen, die aus heutiger Sicht skurril anmuten, wie etwa dem zum Trinkgeld: „In der Regel wird zu viel gegeben.“
Der Erfolg seines „Handbuchs“ war so enorm, dass er als „Baedeker“ zum Synonym für Reiseführer geworden ist, obschon er nicht der Einzige in diesem Genre war. Theobald Grieben gründete 1853 „Grieben‘s Reise-Bibliothek“, die zudem mit Illustrationen und – ab Ende des Jahrhunderts – auch mit ersten Fotografien ausgestattet war. Leo Woerl publizierte ab 1878 Reisehandbücher. Bis zur Jahrhundertwende erschienen 600 Ausgaben im praktischen Taschenbuch-
format in deutscher und englischer Sprache. Als Kfz-Besitzer in den Reisemarkt drängten, veröffentlichte der Reifenproduzent Continental ab 1912 das „Continental Handbuch für Automobilisten“, das alle kostenlos bekamen, die ein Automobil oder ein Motorrad besaßen. Deutschlandweit waren in den Continental Handbüchern alle Apotheken vermerkt, die Benzin verkauften – Tankstellen gab es damals noch nicht.
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts blieb das Reisen allerdings eine Angelegenheit für wohlhabende Kreise. Neben Geld fehlte der arbeitenden Bevölkerung schlichtweg die Zeit fürs Weltenbummeln. 1903 hatten die Arbeiter der Berliner Schultheiss-Brauerei gerade einmal drei Tage Urlaub erstritten – im Jahr. In den 20er-Jahren setzte sich der Urlaubsanspruch für alle Arbeitenden und Angestellten durch und war bis 1933 mit lediglich vier bezahlten Urlaubstagen gesetzlich verbrieft.
Das nationalsozialistische Regime erkannte in der Sehnsucht der Menschen nach Erholung und Abwechslung das Potenzial, die Leistungsfähigkeit der Bevölkerung zu stärken. Es bot mit der 1933 gegründeten Organisation „Kraft durch Freude“ Tagestouren, Wanderungen und längere Urlaubsreisen an, die sieben Millionen Deutsche in Anspruch nahmen. Um das Erlebte für nationalsozialistische Propaganda zu nutzen, schaltete Goebbels’ Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda bis zum Kriegseintritt den Markt für Reiseführer durch den „Reichsausschuß für Fremdenverkehr“ gleich.
In der DDR war der Urlaub für alle verfassungsrechtlich festgeschrieben. Zwischen Anfang Juli und Ende August waren große Ferien im sozialistischen Staat. Entsprechend umfangreich war das Angebot an Reiseliteratur und -führern, was sich allerdings auf das eigene Land und die sozialistischen Bruderstaaten beschränkte. Publikationen wie „Unsere kleinen Wanderhefte“ aus dem wiedererstandenen „Bibliographischen Institut“ oder „Werte unserer Heimat“, herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR, waren beliebte Reihen.
Seit den Wirtschaftswunderjahren der Nachkriegszeit, die dem Westen einen wahren Urlaubsboom bescherten, hat sich der Markt der Reiseführer bis zur Unübersichtlichkeit ausdifferenziert. Waren anfangs noch beispielsweise die Prestel-Reiseführer mit ihrem Prosastil sehr gefragt, kam bald das Bedürfnis nach schneller Information auf: Tipps zu Routen und Angaben zu Versorgungsstationen waren gefragter als gefühlvolle Reisebeschreibungen. Zu den Reiseführer-Reihen aus Verlagen wie Polyglott, DuMont, Gerstenberg oder Bruckmann gesellten sich bald auch Reisemagazine wie Merian, GEO, Globo oder ADAC Reisemagazin.
Mit Aufkommen des Internets wurde das Ende der Reiseliteratur prophezeit. Es kam jedoch anders. Während Reisebüros einen eklatanten Einbruch verzeichneten, vermeldete das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels zu Beginn der 10er-Jahre einen Absatzzuwachs bei Reiseführern und -büchern. Nach der Coronakrise stieg der Absatz wieder auf Vor-Corona-Niveau. So schreibt der buchreport, dass „nach dem pandemiebedingten Einbruch der letzten beiden Jahre gedruckte Reiseführer in diesem Jahr wieder spürbar an Popularität gewinnen“.
Die größten Zuwächse verzeichne dabei das Segment der Individualreiseführer. Als Gründe werden genannt, dass Individualreisende sich intensiver mit ihrer Reise beschäftigten und sich früher mit dem Zielgebiet auseinandersetzten. Wer individuell verreise, habe überdies in der Coronapandemie Mut bewiesen und sich durch die Einschränkungen nicht von seinen Urlaubsplänen abbringen lassen. Die Individualreiseführer hätten auf das veränderte Reiseverhalten in der Pandemie die beste Antwort gegeben, weil Outdoor-Erlebnisse und Mikroabenteuer ebenso in den Büchern Eingang gefunden hätten, wie Attraktionen der Kategorie „Geheimtipp“ abseits des touristischen Mainstreams.