Von Michael Berwanger

Rimantas Kmita, Rasa Aškinytė, Jurga Ivanauskaitė? Nie gehört? Dabei sind das drei wichtige Autor*innen der Literaturszene Litauens. Ist es nicht seltsam, dass Schreibende aus dem Osten – selbst 30 Jahre nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs – bei uns immer noch fast unbekannt sind, während uns die Literaten aus Frankreich, Italien oder gar Amerika beinahe selbstverständlich präsent sind? Dabei hat Litauen seit seiner Unabhängigkeit wieder eine vitale Literaturszene.

In den Nachkriegsjahren war die Literatur in Litauen geprägt durch die Aufarbeitung der Fremdherrschaft durch Nazi-Deutschland, aber ganz auf Linie der UdSSR. Der Dichter und Dramaturg Balys Sruoga schrieb über seine Erfahrungen im KZ Stutthof, Autoren wie Brazdžionis, Radauskas, Savickis oder Kossu-Aleksandravičius über ihre Schicksale im Exil. Ab den 1970er Jahren emanzipierten sich etliche Schreibende thematisch von den politischen Vorgaben, aber viele der Publikationen waren bis zur Unabhängigkeit 1990 verboten oder nur unter der Hand erhältlich.

Erst die Unabhängigkeit brachte eine größere Vielfalt literarischer Formen. Kriminalromane wurden sehr populär, aber auch Romane zur Geschichte, Mythologie und bäuerlichen Tradition. Dabei kristallisierte sich eine deutliche Spaltung zwischen einer proeuropäischen und einer nationalen Richtung heraus. Während Romualdas Granauskas (1939–2014) mit seinen patriotischen Themen für letztere stand und nach wie vor in Litauen viel gelesen wird, konnte Jurga Ivanauskaitė (1961–2007) ihren Roman „Die Regenhexe“ in Litauen – trotz der wiedererlangten Freiheit – nicht publizieren. Er wurde kurz nach Veröffentlichung wegen der darin enthaltenen Kritik am Katholizismus verboten. Rimantas Kmita (geboren 1977) und Rasa Aškinytė (geboren 1973) gelten dagegen als vermittelnd, schreiben über litauische Jugend und Historie. Und sie sind zwei der vielen Künstler*innen, die 2021 nach Bayern kommen, um die Kultur ihres Landes zu präsentieren. Allerdings leidet derzeit die gesamte Kulturbranche des Landes unter den Auswirkungen der Belarusischen Flüchtlingspolitik. Das Regime des Nachbarlandes schickt gezielt Flüchtlinge aus Asien und Afrika nach Litauen, um Druck auf die EU auszuüben.

Umso erfreulicher ist es, dass das Lithuanian Culture Institute (LCI) in Vilnius und etliche deutsche Kooperationspartner das „Litauische Kulturjahr in Bayern“ veranstalten. Im März 2021 startete die litauische Kultursaison in München und führte danach nach Augsburg, Blaibach, Ingolstadt, Nürnberg und Würzburg. Nach Auftritten litauischer Dirigent*innen, Komponist*innen und Musiker*innen präsentiert das LCI nun litauische Literatur und Poesie im Literaturhaus München und im Lyrik Kabinett.

Im Lyrik Kabinett wird am 7. Oktober der Lyriker und Bürgerrechtler Tomas Venclova mit dem Autor und ehemaligen Verleger des Carl Hanser Verlags Michael Krüger diskutieren. Die Poesie galt in Litauen lange als „Sprache der Freiheit“, da sie besondere Möglichkeiten der Mitteilung in verschlüsselter Form barg. Außerdem werden sich Lyriker*innen der jüngeren Generation Litauens vorstellen: Marius Burokas, Herausgeber der Anthologie „New Lithuanian Poets“, Aušra Kaziliūnaitė, eine der meistübersetzten Autorinnen sowie Giedrė Kazlauskaitė, die ihr kreatives Schreiben mit Gedichten für Kinder und Jugendliche begonnen hat.

Zur „Litauischen Literaturnacht“ werden am 23. September prominente literarische Stimmen ins Münchner Literaturhaus kommen: Der litauische Bestsellerautor Rimantas Kmita bringt seine „Chroniken des Südviertels“ mit und Rasa Aškinytė präsentiert ihren im September auf deutsch erscheinenden historischen Roman „Kleines Bernstein“. Außerdem werden Antanas Škėmas „Apokalyptische Variationen“ vertreten sein.

Der in Łódź geborene Antanas Škėma, gestorben 1961 im Exil in Chicago, zählt in Litauen zu den Klassikern. Er arbeitete sein ganzes Leben daran, das von ihm Durchlebte in Literatur zu verwandeln. Sein einziger Roman, „Das weiße Leintuch“, gibt Zeugnis von seinem New Yorker Exil. Daneben sind aus allen Phasen seines Lebens literarische Stücke überliefert: Erzählungen, Skizzen, Szenen und Verdichtungen, die in „Apokalyptische Variationen“ zusammengefasst sind – eine Geschichtensammlung, die die Verheerungen des 20. Jahrhunderts thematisiert.

Die 1973 in Vilnius geborene Rasa Aškinytė, die Geschichte, Philosophie und Erziehungswissenschaften studierte, schreibt in „Kleines Bernstein“ von der Bernsteinstraße, die das Land der Ästier an der Ostsee mit Rom verband, wo Bernstein, Pelze und Metalle gehandelt wurden. Die siebenteilige Struktur des Romans – sieben Szenen, sieben Unterszenen, sieben Charaktere – balanciert das Historische, Mythische und Alltägliche aus. In der für Aškinytė typischen filmischen Prosa verflechtet sie die Schicksale zweier starker Frauen, die um ihren Platz in der Gesellschaft kämpfen. Dabei stellt sie der männlichen Welt des Handels und der territorialen Konflikte eine weibliche, häusliche Welt entgegen.

Der Nordlitauer Rimantas Kmita gilt mit seinen Comig-of-Age-Geschichten in seiner Heimat als Idol der Jugend. Im Zentrum seiner „Southern Chronicles“, die in Litauen 2016 erstmals erschienen sind, steht der Gymnasiast Rimas. Sein tägliches Leben: Beziehungen zu Freunden, Mädchen, erste erotische Erfahrungen, Versuche, Geld zu verdienen, Rugby spielen. Das Werk beschreibt aber auch die Atmosphäre der ersten Jahre der Unabhängigkeit in Litauen: „wilder“ Kapitalismus, Aktivitäten krimineller Gruppen, Wohlstand, Verbreitung gefälschter Waren auf dem Markt, Interesse an östlichen Kulturen und seltsamen spirituellen Praktiken. Der Protagonist durchläuft dabei eine sichtbare Entwicklung seiner Persönlichkeit. Zunächst möchte er so sein wie alle, aber irgendwann beginnt er seine Haltungen und Ansichten zu überdenken.

Es wird spannend werden, dem wenig bekannten Terrain der litauischen Literatur näher zu kommen.