Am folgenden Sonntag fahren wir zum Eichendorffplatz, weil wir uns jetzt von Namen leiten lassen oder auch die Namen beim Wort nehmen wollen. Wir steigen am Partnachplatz aus. Ich mag das Design dieser Stationen, das den achtziger Jahren entstammt: die changierenden Farben von Cremefarben bis Grün, die sanften Abrundungen, die langen, am Ende leicht gewundenen Linien aus Neonröhren, alles ist gleitende Bewegung hier, unhörbares Fließen, ein Bezugssystem, das sich richtiggehend erfüllt, wenn die U-Bahn mit ihren blauen Sitzen in die Station einfährt.

Das Karree mit dem Platz besteht aus Doppelhausreihen und ein paar Einzelhäusern mit Kegeldach, „Baugenossenschaft München-Süd“ steht auf einem alten Schild am ersten Haus, alles ist sehr einheitlich, schließt sich wie ein friedliebendes Dorf um das Zentrum. Und wie eingewohnt und eingewachsen inzwischen alles ist! Die sich verschwenderisch ausbreitenden Sträucher, schattenspendenden Bäume, einzelne hochragende Blumen, geradezu riesenhaft mutet die Vegetation an, und in der Novalisstraße wuchert sie, dem Namen entsprechend, bis auf den Bürgersteig, natürlich blaue Glockenblumen, die dem Spaziergänger voranleuchten.

Der Platz selbst ist dann allerdings zunächst eine Enttäuschung. Die lange Abfolge mächtiger Kastanienbäume, die wir auf einem Foto gesehen haben und unter deren Wipfeln man sich schon einen dahingaloppierenden Reiter oder einsamen Eichendorffschen Wanderer vorstellen konnte, gibt es nicht mehr, nur noch ein paar knorrige, verlassene Exemplare stehen da, immerhin sind neue Bäumchen angepflanzt.

Wir setzen uns auf den winzigen Teil einer Bank, auf dem noch Schatten liegt. Zwei Jungen üben Torschießen auf dem Rasen, Elfmeter und Strafstoß. Das Spiel ist eintönig, sodass sie einen Dialog dazu führen. „Was möchtest du sein?“, fragt der eine, was kurz wie eine philosophische Frage über den Platz hallt. „Mittelfeld, Abwehr, Tor oder Sturm?“

Ein dritter, thailändisch aussehender Junge kommt hinzu, stellt sich scheu neben einem neuen Bäumchen an den Rand. Irgendwann nimmt er einen versprengten Ball auf und mischt sich vorsichtig ins Spiel. Das Geschehen ist zu dritt plötzlich interessant, es gibt Pässe, sich ergänzende Dribbel-Kunststücke, Torschüsse aus unvorhergesehenen Winkeln. Man sieht, dass die drei über das Spiel miteinander kommunizieren. Es geht nicht nur um Geschicklichkeit, sondern auch um Ehrlichkeit, Gefühlsausdruck, Zusammenspiel und Treue.

Eine dreiköpfige Familie hat sich unter ein Spielgerät gesetzt, weil nur dort noch Schatten war, und malt jetzt Botschaften in den Sand. Die Wolken segeln anders dahin hier, bald werden sie an die Berge stoßen. Allmählich beginnt dieser kleine Platz, uns zu gefallen.

Aus: Tiny Stricker, U-Bahn-Reiter, Verlag p.machinery, 2020