Von Tiny Stricker

In einer anderen Jahreszeit, die jetzt anscheinend schon weit zurückliegt, sah ich einmal zwei Breakdancer am Eingang der TU-Mensa beim Üben. Der Schauplatz war sehr gut gewählt: Zwei Stufen führen hinauf zu einer Art Vorhalle mit Säulen, es hat etwas von einer weiten Bühne, erinnert auch abstrakt an eine Tempelfront. Alles ist eckig, nüchtern, rechtwinklig, technisch hier, die Säulen aus Beton, die Bodenplatten, Lamellen an der Decke. Sogar der CD-Spieler, den die beiden dabeihatten, fügte sich nahtlos ein: ein längliches, tönendes Vierkantstück mit Tragegriffen für den Zug durch das Ghetto.

Die bunten, ewig zerfetzten Film- und Popkonzertplakate an den Säulen bildeten jedoch bereits einen Kontrapunkt zu all der Strenge, und natürlich auch die Musik, die aus dem Gerät quoll und auf dem nackten Untergrund besonders gut hallte und dröhnte, vor allem die Bässe, die wie am Boden aufprallende und wieder hochschnellende Bälle wirkten. Es lief eine Form von Hip-Hop, und die Hartnäckigkeit dieses Stils passte ausnehmend zur Hartnäckigkeit der beiden Breakdancer, das Festhalten an einer Grundidee, ihre endlose Ausweitung, Verzierung und Übersteigerung. (Manchmal denke ich, dass diese Musik in sich schon eine soziale Aussage ist, nichts als eine sich selbst überlassene, sich endlich austobende Hintergrundmusik.)

Ich lief mehrmals um das Gebäude herum, weil ich die Vorführung, vielleicht Vorbereitung eines »Battle«, bewunderte, und gerade beim Vorbeigehen zeigten sich der Bewegungsreichtum, die Fantasie dieser Improvisationen besonders, wie der Tanz zwischen den Säulen auftauchte, die ihn einrahmten und zu einem Kunstwerk aus einer anderen, überschwänglichen Ära machten. Auch der Glaspalast, die Spiegelwände dahinter gehörten dazu, weil sie die bizarren Pirouetten und Sprünge vervielfachten, zu einer »Show« erhoben. Im heftigen Gegensatz zur Geradlinigkeit und Starre des Gebäudes war die Darbietung wirbelnd und freischwebend, aber auch abgerundet, konzentrisch.

Nach jedem „Set“, wie man das vielleicht nennt, sprangen die beiden Tänzer auf, rieben sich die Knochen und lachten. Dieses Lachen schien Teil des Rituals zu sein, und ich weiß nicht, ob es ein Weglachen der Schmerzen – nur eine dünne Staubschicht machte diese Platten etwas sanfter – war oder ein Triumphgefühl ausdrückte, den Sieg des schmiegsamen Körpers über die harte Materie.

Aus: Tiny Stricker: U-Bahn-Reiter, Verlag p.machinery, 2020