Von Simon Gerhol

Das Dorf lag hinter einem als Acker genutzten Hügel. Mit seinen hellen Palisaden schmiegte es sich zwischen zwei Waldstücke, die dicht heranreichten und an manchen Stellen ihr Grün ins Innere streckten. Das Tor bestand nur aus einem schwenkbaren Verschlag und man trat direkt ins Zentrum: Ausgebleichtes Gehölz, regennasses Grau, ein steinerner Brunnen mit gelbem Reetdach, dessen Farbe sich auf der Handvoll Dächer der umstehenden Hütten wiederholte. Vereinzelte Feuer nassen Holzes qualmten und vernebelten den Blick in die bleichen Gesichter der Dutzend Bewohner, die ihn aus tief liegenden Augenhöhlen erwartungsvoll anstarrten.

Der Alte, Asche auf dem Haupt, hatte gerade geendet. Obwohl er kein Wort der an Gesten reichen, bedrückt klingenden Rede verstanden hatte, blieb der Appell am Ende unmissverständlich: Sein Arm, lang, gerunzelt, deutete schweigend in den dichten Wald. Er hob den Speer an, auf den er sich stützte, kehrte um, schritt zum Tor. Ein Mädchen kam angelaufen, drückte ihm eine selbst gepflückte, verwelkte Blume in die Hand, die er nachdenklich betrachtete. Doch da er den Kopf hob, konnte er das Kind nirgends erblicken, nur bohrend schwarze Augenpaare. Er trat hinaus, mächtig türmte sich der Waldrand auf.

Sanft schimmert das Dunkel der Pupille im klaren Gelb der Iris. Leise bewegt ein Lufthauch die grünen Blätter, die Muster auf dem Boden hinterlassen. Der welkende Schatten flüstert Tod. Vater Sonne steht ruhig, die Dämonen schlafen in bleichen Wassern. Kaum merklich wiegen die Muskeln den gelb-braunen Pelz, dessen weiß-schwarze Streifen ungesehen durchs Dickicht huschen, im Rhythmus der Blätter tanzen. Es ist heiß. Der Wald dampft, Farne winken träge, fächeln Luft, die nicht zu atmen ist. Die Rufe der Vögel erlahmen bei seinem Kommen, das Gebrüll der Affen gipfelt in Stille.

Ein Geruch des Verderbens weht durchs Gebüsch. Das Licht sendet schweigend bestialische Bilder ins Dickicht des Hains, ein verebbendes Echo im Meer des sich selbst schaffenden Reflexionshintergrunds: Das Gelbe im Auge des Tigers, das Letzte, was er sieht.

Das Geräusch schleichender Tatzen drang an sein Ohr. Der Wind drehte, trug den Geruch des Tieres heran. Rascheln im Unterholz, übertönt vom Rauschen in seinen Ohren, Wasserfälle apokalyptischen Trommelns seines Herzschlags; schweißgebadet, schwer atmend, nur mit Mühe leise nach Luft schnappend, umklammerte er mit beiden Händen den Speer. Die Schlaffheit verschwand, jeder Muskel angespannt. Leben pulsierte durch die Adern, er spürte jede Zelle des Körpers, keine Angst, keine Zeit, die lang ersehnte Ewigkeit versteckt, versenkt im Augenblick. Langsam verlagerte er das Gewicht auf den linken Fuß und drehte leicht in Richtung des Tiers. Die Waffe stoßbereit, konnte er aus den Augenwinkeln die gelbe, kalt blickende Fratze des Untiers in einem Busch ausmachen. Da brach das Ungeheuer hervor. Blitzschnell schritt er nach hinten aus, rammte den Speerschaft in den Boden, stützte ihn mit einem Fuß, als der Tiger im Sprung die Krallen nach ihm ausstreckte. Zischend drang die Spitze ins heiße Maul des Jägers, dessen Gebrüll erstarb, da er wuchtig auf den Menschenkörper stürzte und ihn unter sich begrub.

Ein Schmerz durchzuckte seinen Hals. Das Splittern des Halswirbels verströmte einen grellen Lichtblitz im Körper. Der süße Geschmack von Blut bedeckte die Zunge. Unterlegt von röchelndem Atem, hörte er den Wald erneut zum Leben erwachen: Vögel, Affen, sogar das Rauschen der Blätter und das Fließen des nahen Flusses drangen heran. Gleichgültig breitete der Dschungel sein Grün darüber.