Von Michael Berwanger

London 1881. Wie so oft schleicht der betagte Charles Darwin bei nächtlicher Dunkelheit durch sein Haus, da ihn Kopfschmerz, schlechte Verdauung und Selbstvorwürfe nicht schlafen lassen. Die Konzentration auf seine Forschungen verschafft ihm etwas Erleichterung. Und so tappst er vorsichtig durch sein Arbeitszimmer, wo Horden von Regenwürmern in Wedgewood-Keramik ihrer nächtlichen Arbeit nachgehen. Exemplare, die Darwin mit seiner Paraffinlampe anstrahlt, verziehen sich unter die Erde – manche sofort, andere nach Minuten.

„In den frühen Morgenstunden wurde Charles Zeuge einer Regenwurmliebe. Er verscheuchte aufkeimende Skrupel und begann, das Pärchen unter Lichtbeschuss zu setzen. Vergnügt stellte er fest, dass die geschlechtliche Leidenschaft stark genug war, ihre Furcht vor der Beleuchtung zu überwinden.“

So beginnt die Münchner Autorin Ilona Jerger das Bild von Charles Darwin in ihrem Debütroman „Und Marx stand still in Darwins Garten“ zu zeichnen. Sie lässt den zu Lebzeiten weltberühmten englischen Forscher wieder auferstehen, spürt seinen späten Jahren hinterher, seinen Erfolgen, aber auch seinen übergroßen Zweifeln. Jergers Buch ist dabei aber ein Roman, keine lexikalische Abhandlung. Sie erzählt von Versuchsaufbauten, die den Alltag der Familie Darwin über Monate belasten, über Naturbetrachtungen bei Spaziergängen, die dem alten Mann Linderung verschaffen sollen, über Begegnungen mit Personal, Gästen und seinem Hausarzt (dieser ist die einzige fiktive Figur des Romans) und über die Auseinandersetzungen mit seiner Frau Emma. Seit Darwin erkannt hat, dass die Evolution für den Wandel auf Erden sorgt, ist sein Gottesglaube eingebrochen. Seine tiefgläubige Frau bedrängt ihn, wieder zum Glauben zurückzufinden, freigeistige Atheisten versuchen seine Forschungsergebnisse für ihre soziologischen Grundhaltungen zu missbrauchen und kirchliche Fundamentalisten hetzen gegen ihn von den Kanzeln.

In dieses opulente Gemälde aus Forschung und Alltag, Gesprächen und inneren Monologen, Vor- und Rückblenden steuert die Autorin ihren Roman auf ein Treffen zweier wesentlicher Vordenker ihrer Zeit zu: Karl Marx und Charles Darwin. Obschon in der gleichen Stadt lebend, sind sich die beiden im echten Leben nie begegnet. Was diesen Kunstgriff so spannend macht, ist die Frage: Was hätten sich Marx und Darwin zu sagen gehabt, die voneinander wussten und (teilweise) auch des Anderen Schriften gelesen hatten? Hätten sie sich etwas zu sagen gehabt? Denn obschon Marx versucht hatte Profit aus Darwins Erkenntnissen zu ziehen, könnten die beiden nicht unterschiedlicher sein: Zwar annähernd gleich alt, stehen aber beide für diametral entgegengesetzte Weltanschauungen. Darwin, der geduldige Naturwissenschaftler aus großbürgerlichem Haus, ausgestattet mit Ruhm und ausreichend Finanzmitteln. Und Marx, der cholerische Vordenker des Kommunismus, der aus Deutschland fliehen muss, annähernd mittellos ist und zu seiner Zeit noch wenig Beachtung findet.

Es ist ein Vergnügen zu lesen, wie die in Haidhausen lebende Autorin, die Germanistik und Politologie in Freiburg studiert hatte, in ihrem Roman auf das Treffen von Marx und Darwin hinschreibt. Die köstlichen Verwicklungen dazu seien hier nicht verraten. Verraten sei aber, wie sie mit großer Fabulierlust die wissenschaftliche Weltordnung des ausgehenden 19. Jahrhunderts seziert und dabei neue Blickwinkel auf scheinbar Vertrautes zeigt. Dass Karl Marx sich als pseudoreligiöser Ideologe entpuppt, wird Manchen sicherlich nicht behagen. Dazu sei aber erwähnt, dass sich die Autorin
darin bestens auskennt: sie ist Wissenschaftsjournalistin und war zehn Jahre lang Chefredakteurin der Zeitschrift „natur“. In ihrem Roman verbindet sie wissenschaftlich präzise Beschreibungen mit sprachlicher Leichtigkeit, vergnügliche Alltagsschilderungen mit weltumwälzenden Gedankengebäuden. Und sie führt den LeserInnen jene wissenschaftlichen Errungenschaften vor Augen, die das Heute in seinen wesentlichen Grundsätzen geprägt haben.

Ilona Jerger
Und Marx stand still in Darwins Garten
Roman, 288 Seiten
Ullstein, Berlin 2017
20 Euro