In seinem neuen Roman beschäftigt sich Jo Lendle mit dem Einfluss, den Familie auf das Leben des Einzelnen hat

Von Katrina Behrend Lesch

Was ist Familie? Gemäß der traditionellen Definition ein Ehepaar, das mit seinen Kindern in einem Haushalt wohnt, im weitesten Sinn Personen, die zusammenleben und gemeinsam den Alltag gestalten. So kann man es in einschlägigen Artikeln nachlesen. Aber eigentlich geht es Jo Lendle in seinem neuen Roman „Eine Art Familie“ gar nicht so sehr um diese Frage oder besser gesagt, um eine stimmige Antwort. Auch wenn beiderlei Lebensformen eine wesentliche Rolle in dieser Geschichte spielen, die zufällig seine eigene ist. Womit sich der Autor die Sache nicht leicht gemacht hat.

Im Mittelpunkt stehen die Brüder Lud und Wil Lendle, die aus einer bildungsbürgerlichen Familie stammen, vom gleichen Idealismus geprägt sind und sich in der Zeit des Nationalsozialismus doch in ganz andere Richtungen entwickeln. Lud ist Professor für Pharmakologie, erforscht den Schlaf und die Frage, wie man ihn erzeugt. Als er sich der Erkundung von Giftgas zuwendet, gerät er mit sich und seinen hehren Idealen in immer größeren Zwiespalt. Wil tritt früh in die nationalsozialistische Partei ein, weil er, wie er sagt, einer Sache dienen möchte. Rasch bekleidet er dort einen hohen Posten, seine Ideale stehen ihm dabei nicht im Weg. Wils Sohn kennt nichts anderes als die Nazi-Ideologie, aber als Lud merkt, wie gefährlich diese Prägung für seinen Neffen werden kann, nimmt er Einfluss auf ihn.

Nicht weniger wichtig in dieser Familienaufstellung ist Alma, die ihre Eltern schon als Kind verliert und von ihrem nur unwesentlich älteren Patenonkel Lud früh aufgenommen wird. Zusammen mit der Haushälterin bilden die drei zusammengewürfelten Menschen eine Art Familie, die sich, von ein paar Unterbrechungen abgesehen, zeit ihres Lebens nicht voneinander trennen und es doch zu keiner rechten Verbindung bringen. Alma zieht es zu Lud hin, doch der bleibt in Distanz zu ihr, auch weil er nicht aufhören kann, an Gerhard, seinen Freund aus Kriegstagen zu denken.

Familienromane sind in, zunehmend auch, wenn es um jene dunklen Flecken in der Vergangenheit geht, an die zu rühren man sich bisher nicht wagte. Diese Scheu fällt, je weiter die Generationen nachrücken – und Jo Lendle gehört zu dieser nachrückenden Generation. Lange stand für ihn sein Großvater Wil als überzeugter Anhänger des Naziregimes auf der falschen Seite, während sein Großonkel Lud der Gute war, der sich dagegen stellte. Bis er recherchierte und von dessen Forschungen erfuhr, vom Schlaf und von seiner künstlichen Herstellung durch Narkose und letztlich durch Giftgas.

Tiefe Einblicke gewährten ihm Ludwig Lendles Tagebücher, die dieser mit dem Hinweis „Nach meinem Tod ungeöffnet verbrennen“ an seine Nachfahren weitergegeben hatte. Die Familie hielt sich nicht daran, und so fühlte sich der Großneffe in gewissem Maße gedrängt, daraus einen Roman zu machen. Wobei ihm der Balanceakt zwischen Tatsächlichem und Möglichem überzeugend gelungen ist.

In gleichsam beruhigendem Erzählton setzt Lendle Fakten und Fiktion zueinander, die historischen Ereignisse vom Leben im Kaiserreich, unter dem Nationalsozialismus, in der jungen DDR und in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit als Folie benutzend. Die Umbrüche – politische, gesellschaftliche, kulturelle – werden in die Innenwelt der Protagonisten gespiegelt, in ihre Beziehungen, ihre Gedankenwelt, ihr Fortkommen. Deren Eigenleben gewinnt dadurch an Glaubwürdigkeit, ohne es zu denunzieren. Denn, sagt der Autor: „Der Familie entkommen wir nicht, sie macht uns aus.“

Jo Lendle: Eine Art Familie
Roman, 368 Seiten
Penguin Verlag München, 2021
22 Euro

Jo Lendle liest am 6. Oktober im Literaturhaus, siehe Kalender.