Alexander von Humboldt war ein Forscher und Abenteurer, furchtlos und neugierig. Für seine Zeit ein wahres Genie. Mit Sextant und Quadrant, mit Thermo- und Barometer bewaffnet – und allem, was sich noch an Meterware zum Messen eignete –, wagte er sich in die entlegensten Winkel der Erde, sammelte und zählte aus Leidenschaft. Selbst die Läuse auf dem Kopf der Einheimischen waren nicht sicher vor ihm. Würde er heute noch leben, hätten ChatGPT & Co. ihre helle Freude. Humboldts Messungen würden den größten Datenhunger jeder künstlichen Intelligenz stillen.

Von Humboldt wird das Zitat überliefert: „Wann immer einen die Dinge erschreckten, sei es eine gute Idee, sie zu vermessen.“ Messen gibt uns Sicherheit. Was ein Maß hat, ist berechenbar. Die Risiken kalkulierbar. Wer einen Berg besteigt und weiß, es sind knackige 957 Höhenmeter zu bewältigen, der zieht sich entweder warm an oder wählt den Sessellift.

Gipfelstürmer Reinhold Messner hat das Messen gleich in seinen Namen aufgenommen. Von ihm wissen wir, dass er als 1. alle 14 8000er bestiegen hat, auf 2 Füßen, mit 2 Händen – und 0 Sauerstoff aus der Flasche.

Wo man hinschaut, regiert das Mess-Diktat: In Lokalen hat sich die Unsitte eingeschlichen, nur noch 2-Stunden-Slots für die hungrigen Mägen zu vergeben. Nun wählt nicht jeder gleich ein 4-Gänge-Menü, aber ein bisschen aussitzen will man den halben Liter Wein dann schon.

Angesichts all der Mess-Manie mag man ausrufen: Das Maß ist voll! Nicht auszudenken, wenn die Bücherei unseres Vertrauens für die Lektüre des neuesten Martin Suter 2-Stunden-Slots vergeben würde. Was bei einem Daniel Glattauer kein Ding der Unmöglichkeit wäre, lässt sich sein neuestes Werk ohnehin „in einem Zug“ durchlesen.

Wer die literarisch sozialen Medien durchforstet, glaubt bereits überall Nachfahren Humboldts zu erkennen. Die Vermessung der Lesewelt ist nicht mehr aufzuhalten. Die Ästhetik der Literatur ist der Arithmetik gewichen. Auf der Plattform Goodreads werden wir angespornt, in einem Jahr 25 Bücher zu lesen. Die Wette gilt! Auf Instagram schreit es einem entgegen: Mein Lesemonat Mai war ganz schön mau – ich habe nur 30 Bücher geschafft. Nur 1 Buch pro Tag? Das ist mitleiderregend! Frustrierte Leseratten messen auch die Höhe ihres Stapels ungelesener Bücher: 2,45 Meter – wer bietet mehr?

Ach, da fällt mir ein, Daniel Kehlmanns „Vermessung der Welt“ habe ich innerhalb eines 2-Stunden-Slots abgebrochen. Frei nach Humboldt: „Wann immer einen die Bücher erschreckten, sei es eine gute Idee, sie schnell zu vergessen.“

Markus Czeslik