Wer gern und viel Krimis liest, verzweifelt manchmal über den immer gleichen Plot – Mord, Leiche, Ermittler, vertuschte Spuren, Auflösung. Friedrich Ani hat schon vor Jahren begonnen, den Kriminalroman als Vehikel für sein Nachdenken über den inneren Zusammenhalt unserer rasanter werdenden Dienstleistungsgesellschaft zu benutzen.
Seinen Tabor Süden lässt er nach vermissten Personen suchen, die erst durch ihr Verschwinden in das Bewusstsein ihrer Mitmenschen geraten sind. Nun hat Ani mit seinem neuen Ermittler Jakob Franck einen pensionierten Kommissar erfunden, der die Einsamkeit und die inneren Monologe mit seinen Auftraggebern, den Opfern und sicher auch seinem Autor teilt.
In dem soeben erschienen Roman „Der namenlose Tag“ erfleht der 67-jährige Witwer Ludwig Winther aus dem Münchner Stadtteil Ramersdorf von dem Ruheständler, nochmal den Umständen des Freitods seiner Tochter nachzugehen, der zwanzig Jahre zurück liegt. Franck trifft bei seinen Recherchen im Umfeld der Familie Winther auf generationenübergreifendes Schweigen. Über drei Generationen verheddern sich die Hinterbliebenen in Stummheit und sinnlosem Lügen. Und Ani katapultiert seine LeserInnen in ihre eigenen Kindheiten, wo trotz der lärmenden Geschwätzigkeit über die wichtigen Dinge geschwiegen wird und das Wesentliche nicht ausgesprochen werden darf, und wo die Kinder im Mief verdruckster, kleinbürgerlicher Großstädter verstummen. Das Beste, was Ani bisher geschrieben hat.
Michael Berwanger
Friedrich Ani
Der namenlose Tag
Roman, gebunden 300 Seiten
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
19,95 Euro