Wie sich die Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek wiederentdecken lässt. 

Von Katrin Diehl

Ein Buch ist eine gute Beigabe, wenn es darum geht, jemanden ins Gedächtnis zurück zu rufen. Und so passte es, dass bei der Gedenkveranstaltung für Jella Lepman – sie ist vor 50 Jahren gestorben – in der Internationalen Jugendbibliothek (IJB) eine „Neuauflage“ ihrer „Kinderbuchbrücke“ präsentiert wurde.

Jella Lepman, die 1891 in Stuttgart in ein jüdisch-liberales, gutbürgerliches Elternhaus geboren wurde, die unter den Nazis Deutschland verlassen musste, dies 1936 mit ihren zwei Kindern in Richtung England getan hat, und die 1945, gleich nach dem Krieg, als ehemalige Journalistin eines US-amerikanischen Senders die Anfrage erreichte, ob sie als Beraterin der US-Armee im Rahmen des  „Reeducation“-Programms nach Deutschland zurückkehren würde …, Jella Lepman hat ja gesagt. Nicht ohne Zögern. Nicht ohne Zweifel. Aber sie hat ja gesagt, kam nach München, setzte auf Bücher aus der ganzen Welt, die den vom Krieg traumatisierten und von der Nazi-Ideologie indoktrinierten Kindern einen neuen, freien Blick ermöglichten. 1946 organisierte Lepman im „Haus der Kunst“ eine internationale Ausstellung mit dem Titel „Das Jugendbuch“, die sich vor Besuchern kaum retten konnte. 1949 schaffte sie es, nach zähen Verhandlungen und einigem diplomatischem Geschick, mitten in der Stadt, gleich hinter der Staatsbibliothek, eine „Jugendbibliothek“ nach amerikanischem Vorbild entstehen zu lassen, ein offenes „Haus für Kinder“, in dem die Mädchen und Buben Theater spielten, malten, diskutierten, in dem die Bücher griffbereit standen und für das sich Leute wie Erich Kästner oder Erika Mann engagiert und stark gemacht haben. Jella Lepman hat also Stadtgeschichte mit Folgen geschrieben. Und trotzdem kennen nur wenige diese für Münchens Nachkriegszeit so wichtige Frau. Das galt es erst einmal von den Teilnehmern des Podiums in der IJB, die seit Lepmans Gründung längst auch zu einer Forschungsstätte geworden ist und die seit 1983 im „Schloss Blutenburg“ in Obermenzing ihr Zuhause hat, sachlich festzustellen. Zum Erinnerungstreffen gekommen waren: Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums, Andreas Heusler vom Stadtarchiv München sowie Christiane Raabe, Direktorin der IJB.  Niels Beintker vom Bayerischen Rundfunk moderierte. Basis der Gesprächsrunden bildete die Neuedition von Jella Lepmans „Die Kinderbuchbrücke“, die 1964 zum ersten Mal auf Deutsch erschienen ist, ein Buch, in dem die Autorin in munter-schnoddrigem Ton von der Gründungsgeschichte der IJB in München berichtet. Das neu aufgelegte Buch ist ansprechend aufbereitet worden. Anna Becchi, Kinderbuchfachfrau sowie Jella-Lepman-Biografin aus Italien, hat den Band durch einen wichtigen Hintergrundtext ergänzt. Außerdem wurden Fotos beigefügt, Dokumente ihrer Zeit, die vorstellbar machen und zurückführen in die unmittelbaren Nachkriegsmonate und -jahre der Stadt, in der eigentlich alles darniederlag. Und dann, mittendrin, in der Kaulbachstraße, eine Villa mit einer für Kinder offenen Tür. Passagen aus dem Buch trug Julia Cortis, ebenfalls vom Bayerischen Rundfunk, vor, stellte damit durch Zeit und Raum einen engen Draht her zum resolut anpackenden Ton der Jella Lepman.

Raabe nannte ein ganzes „Bündel“ von vielsagenden Gründen, die erklären könnten, wieso eine Frau, die sich so um das Glück, um Bildung, um Visionen der jungen Menschen verdient gemacht hatte, in die hinteren Ränge des Stadtgedächtnisses geriet: Jella Lepman war keine Münchnerin. Sie hatte ihr Land verlassen, war ins Exil gegangen, war zurückgekehrt, um gleich – nach getaner Arbeit – wieder zu gehen. Sie trug die Uniform der Siegermacht, hatte als Jüdin weiterhin mit antisemitischen Ressentiments zu rechnen und kümmerte sich, beinahe an den Erwachsenen vorbei, „nur“ um die Kinder.

Um den großen Einfluss von Lepmans „Werk“ hervorzuheben, wies Heusler darauf hin, dass es ja damals Tausende von Kindern gewesen seien, die die kreativen Möglichkeiten und Angebote der neuen Jugendbibliothek genutzt haben mussten, und dass eben diese Kinder 15, 20 Jahre später zu den „Entscheidern“ in München geworden seien, diese also die Stadt mit zu dem „weltoffenen“ Ort gemacht hätten, der er bis heute ist: „These – wenn es die IJB nicht gegeben hätte, wäre dieses München graduell in eine andere Richtung gegangen“, so Heusler. Mirjam Zadoff ergänzte, dass man Lepman zu den bekannten Jüdinnen und Juden zählen könne, die sich, wie Hannah Arendt oder Gershom Scholem eben auch, nach 1945 nach Deutschland zurückgewagt hätten, um eine Art Auftrag zu erfüllen. Geblieben sind sie nicht. Zadoff dachte dann weiter laut über ein „Denkmal“ für Jella Lepman, „die ja vieles als erste Frau gemacht hat“, nach. Eine Jella-Lepman-Straße gibt es in München, eine Gedenktafel für sie ist im Innenhof des Schlosses angebracht …, dann der dortige Jella-Lepman-Saal … Die wirklich funkelnde Idee eines „lebendigen Denkmals“ blieb an diesem Abend noch aus. Vielleicht ließe sich zumindest aus der Internationalen Jugendbibliothek eine ein wenig deutlichere Internationale Jella-Lepman-Jugendbibliothek machen? Auf einen wichtigen Punkt wies Raabe gegen Ende der Veranstaltung – und unter dem Kopfnicken einiger – noch hin: „Hinter den Respekt, den Jella Lepman Kindern und Jugendlichen gegenüber gezeigt hat, sind wir weit zurückgefallen. Da müssen wir von ihr lernen.“

Jella Lepman:
Die Kinderbuchbrücke,
Erinnerungen, 303 Seiten
Kunstmann Verlag, München 2020
25 €