„ein elch gehorcht dem labyrinth (und andersrum)“
Daniel Bayerstorfer

Von Marie Türcke

Mit Daniel Bayerstorfer zu telefonieren, ist in vielerlei Hinsicht eine Freude. Nicht nur wegen seines vergnügt-verlegenen Lachens zwischendurch, sondern vor allem wegen der Breite an Themen und der Fülle an Gedanken, denen man begegnet. Fließend kommt das Gespräch von einer Einführung in die chinesische Sprache und Dichtkunst, über Bayerstorfers eigene Gedichte, die Frage der Fiktion in Lyrik und Lyrikunterricht an Schulen, zum Prozess des Älterwerdens im Schreiben.

1989 in Gräfelfing geboren (wo er aber nie gelebt hat), wuchs der Lyriker in München-Pasing/Laim und in Sendling auf, wo er das Dantegymnasium besuchte. Später studierte er Germanistik und Philosophie. Seit er 12 Jahre alt ist, schreibt er, „trotz des Lyrikunterrichts an der Schule“. Mittlerweile hat er mehrere lyrische Sammelbände herausgebracht, einen ersten Soloband unter dem Titel „Gegenklaviere“ (Hochroth, 2017) und ist Mitorganisator der Reihe „meine drei lyrischen ichs“, die mehrmals jährlich in München stattfindet. Er übersetzt chinesische Dichter*innen wie Han Bo ins Deutsche und unterrichtet Lyrik an Münchener Schulen – um dem regulären Deutschunterricht entgegenzuwirken. Ein weiterer Soloband folgt im kommenden Frühjahr.

Lyrik kann viel. Das wird im Gespräch schnell deutlich. Und deswegen begeistert sie Daniel Bayerstorfer schon so lange und nachhaltig. Die Frage, warum gerade Lyrik es ihm so angetan hat, stellt er sich „eigentlich die ganze Zeit“ und gerade deswegen ist er noch dabei: Manchmal kommen neue Antworten dazu, manchmal fallen alte weg, aber die Faszination bleibt. Dass man „die Grenzen von Sprache auf so kleinem Raum ausloten kann, dass sich Sprache so knicken und biegen lässt“, ist dabei immer Thema, auch bei der Übersetzung chinesischer Gedichte ins Deutsche. Bei einem längeren Aufenthalt in Hangzhou entdeckt er seine Liebe für chinesische Lyrik. Während die Mehrheit der europäischen Gegenwartsliteratur noch einer smartphonefreien Zeit nachzutrauern scheint, ist die chinesische Lyrik im 21. Jahrhundert angekommen. Die Lust, Sprache auszuprobieren, neue Themen und neues Vokabular einzubinden und die Ähnlichkeit im Umgang mit Bildern und Metaphern rücken die chinesische Gegenwartslyrik für Bayerstorfer nahe an die deutsche – näher als die mancher direkter Nachbarn: „Das sind Texte mit denen man total viel anfangen kann!“

Selbstverständlich gibt es auch große Unterschiede. Beispielsweise werden im Chinesischen die Verben nicht konjugiert und dadurch gibt es keine klare Zeitzuordnung. Ebenso können die Worte vielfältige Bedeutungen in Schrift und Aussprache haben. So schreibt der chinesische Gegenwartslyriker Han Bo in seinem Gedicht neue kreisstadt: „麋Öã Ü×从Ú»ÖØ.“ Zeichenhaft steht dort „der Elch gehorcht dem Labyrinth, bzw. dem Sich-Verlieren“. Vorgelesen können Zuhörende jedoch nicht wissen, ob der Elch dem Labyrinth, oder vielmehr das Labyrinth dem Elch gehorcht. Diese Information ist nur beim Lesen der Zeichen zu gewinnen, nicht beim Zuhören. Und selbstverständlich ist diese Bivalenz auch Teil der Aussage des Gedichts. Daniel Bayerstorfer übersetzt in diesem Fall übrigens „ein elch gehorcht dem labyrinth (und andersrum).“ Man kann die Verantwortung erahnen, die dadurch entsteht, ein Gedicht in seiner Zeit festzulegen, Metaphern so wiederzugeben, dass die Aussage, die Punchline, bestehen bleibt – und verständlich ist in einer anderen Kultur. Die Übersetzungsarbeit hat Bayerstorfer auch nochmal vor Augen geführt, wie „grammatikalisch wir geprägt sind, wenn wir auf die Welt schauen.“ Und wenn Lyrik aufzeigen kann, wie vorgeprägt wir durch unsere Sprache sind, dann kann sie diese Prägung auch beeinflussen. Überhaupt findet Bayerstorfer, dass das Nischendasein der Lyrikszene nicht notwendig ist. Die klassischerweise kurze Form von Gedichten, in denen man komplette Eindrücke in wenigen Zeilen vermitteln und die Tiefe von Sprache voll ausschöpfen kann, erzeuge eine Entschleunigung, die perfekt in unsere so eng getaktete Zeit passe. Er schlägt vor, in der U-Bahn mal ein Gedicht zu lesen, statt zu whatsappen.

In seinem im Frühjahr erscheinenden Soloband beschäftigt Daniel Bayerstorfer sich mit der Frage der Fiktionalität in Lyrik. Anknüpfend an Monika Brincks Aussage, Lyrik gehöre eigentlich ins Sachbuchregal, also eher neben Kant und Fichte als neben Kafka und Musil, unternimmt er den Versuch, Fiktion und Lyrik wieder einander anzunähern. Beeinflusst von den Epen Homers und mit mittelhochdeutschen Balladen im Hinterkopf, orientiert sich der neue Band an einem Oratorium, also einer erzählend-dramatischen Komposition mit unterschiedlichen Abschnitten.

Aber Bayerstorfer schreibt nicht ausschließlich Lyrik. Seit seinem 26. Lebensjahr arbeitet er außerdem an einem Roman, der es mittlerweile bereits auf 800 Seiten bringt. Dabei begegnet er immer wieder seinem jüngeren Ich und fragt sich, „kann ich diesem jüngeren Ich vertrauen? Wer war ich da eigentlich?“ Im Gegensatz zur Lyrik, wo man in einem älteren Gedicht über sein damaliges Ich schmunzeln kann, stellt ein Roman die Herausforderung an die Autorin oder den Autor, dass sich die unterschiedlichen Zeitstadien des Schreibens einig sind, das Geschriebene also aus einem Guss erscheint.

Daniel Bayerstorfer sucht die sprachliche Herausforderung –  in Übersetzungen, in der Auseinandersetzung mit Gegenwartsliteratur und Fiktion sowie in seinem Roman: Überall will er weitergehen, weitersuchen, Stillstand ist keine Option. Es ist gut vorstellbar, dass es neuen Schwung in die verstaubten Lyriklektionen im Deutschunterricht bringt, wenn er dort (organisiert vom Literaturhaus München und dem Lyrikkabinett) Gedichte vermittelt. Vielleicht greifen so auch jüngere Menschen wieder vermehrt zum Stift, denn dass viel mehr Menschen eigentlich etwas mit Lyrik anfangen könnten und vor allem auch selbst schreiben könnten, daran hat Daniel Bayerstorfer keinen Zweifel.