Konstantin Ferstls Debütroman

Von Ursula Sautmann

Fidelis Lorentz ist sich sicher: J., seine große Liebe, will sich trennen. Am Telefon sagte sie, „dass wir sprechen müssen“. Und Fidelis glaubt zu wissen, was sie sagen will, und tut, was wohl so mancher in dieser Lage tun würde, nur nicht so radikal: Er flieht. Er begibt sich auf eine Reise, nicht nach Mallorca und nicht nach Paris, sondern nach Pyeongyang, nach Nordkorea also, mit dem Zug. Und diese Reise dauert.

Im Zug ist es kalt, Sibirien nimmt kein Ende, die Landschaften sind eintönig, und Fidelis nutzt die Gelegenheit zum Rückblick. Von Etappe zu Etappe beleuchtet er sein Leben, seine Reisen, seine Erlebnisse mit J. und seine Familiengeschichte, die in der nächsten Umgebung von München, in Ober- und Niederbayern spielt. Das klingt nach Selbstbezug und womöglich sogar nach Larmoyanz. Das täuscht gewaltig.

Die Ausgangssituation für den Romanhelden (das passt hier irgendwie) Fidelis Lorentz in „Die blaue Grenze“ von Konstantin Ferstl ist schon skurril genug, es folgen weitere Absurditäten wie eine fast verlorene linke Hand, eine Rolleiflex mit genau zwölf Aufnahmen, ein Urgroßvater, der zur See fuhr und im Dorfweiher ertrank, und überhaupt Pyeongyang.

Konstantin Ferstl ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. Das harte Leben seiner Vorfahren, aber auch seine Reiseerlebnisse mit J. in Mexiko und Kuba spielen sich in Rückblenden wie in kleinen Filmen vor den Augen der Leser*innen ab, immer begleitet von der Liebe zur Familie, zur Heimat, und immer überschattet von der Sehnsucht nach – eben – Familie und Heimat. Ganz eigen und oft witzig kommen Szenen aus der politischen Gegenwart daher. Am Höhepunkt des Buchs gelangt der Reisende ans Ziel: ins fremde, sonderbare Nordkorea, wo die U-Bahn-Stationen Namen wie „Triumph“, „Sieg“ oder „Kriegskamerad“ haben und die Autobahnen leer sind. Und immer sind Marienstein und Amberg gegenwärtig.

Konstantin Ferstl hat mit „Die blaue Grenze“ ein spannendes und bewegendes Debüt vorgelegt, in dem skurriler Humor und liebevolle Sentimentalitäten Hand in Hand gehen mit kluger und präziser Beobachtung familiärer und sozialer Zusammenhänge. Der Autor wurde 1983 in Eichstätt im Altmühltal geboren und beschreibt sich selbst auf seiner Website als „Weltreisender auf der Suche nach Romantik und Revolution“. Er studierte Regie an der Hochschule für Fernsehen und Film München, mit seinem Abschlussfilm „Trans Bavaria“, in dem drei Freunde zu Fidel Castros letzter Rede reisen, gewann er mehrere Preise. Im Essayfilm „Finis Terrae“ reiste er mit dem französischen Philosophen Alain Badiou von Lateinamerika bis nach Nordkorea. Er schrieb mit am Drehbuch für die ARD-Kinderserie „Racko – ein Hund für alle Fälle“, arbeitet als Barpianist und komponiert Filmmusik. Und nicht zuletzt betätigt er sich als Sänger und Songwriter. 2019 erhielt er das Literaturstipendium der Stadt München.

Konstantin Ferstl
Die blaue Grenze
Roman
400 S., gebunden
Rowohlt Berlin Verlag Berlin, 2023
24 Euro