–  und sich selbst mit einer Gedichtanthologie

Von Slávka Rude-Porubská

Einer voll und ganz der Lyrik gewidmeten Institution nähert man sich am besten metaphorisch an: Die slowakische Poetin Mila Haugová vergleicht das lyrische Schaffen mit der Arbeit an einem Garten. Wie im Garten nämlich die Natur einem zähmenden Prinzip zu gehorchen hat und sich ihm gleichzeitig ständig zu entziehen versucht, so oszilliert die Lyrik zwischen dem ordnenden Prinzip der formalen Geschlossenheit und der Mehrdeutigkeit von Sinn- und Bildebenen, offener Bezüglichkeit – zu anderen dichterischen „Gärten“, Poetiken, Sprachregistern. In diesem Spannungsfeld von Beständigkeit und Wandel(barkeit) agiert äußerst erfolgreich auch das Münchner Lyrik Kabinett. 1989 als ein von Ursula Haeusgen auf Lyrik spezialisierter Buchladen gegründet, nach fünf Jahren zu einem Verein und 2003 zu einer gemeinnützigen Stiftung umgewandelt, verfolgt es konstant das Ziel, die Kenntnis und das Verständnis von Lyrik in der Gesellschaft zu fördern. Der 2005 in der Amalienstraße errichtete Glasbau, das Ergebnis des Gestaltungswillens, des mäzenatischen Muts und Netzwerktalents der Stiftungsgründerin, ist zum international anerkannten, „festen Ort für Poesie aller Sprachen und Zeiten“ geworden. Haeusgen hat LyrikliebhaberInnen in einem Freundeskreis mit mehr als 320 Mitgliedern organisiert und aktive MitstreiterInnen unter Verlags- und Medienleuten, WissenschaftlerInnen und ÜbersetzerInnen gewonnen, darunter Michael Krüger, Frieder von Ammon, Tobias Döring, Àxel Sanjosé, Kristina Maidt-Zinke, Verena Nolte oder Antonio Pellegrini.

Als multifunktionales „Haus für Gedichte“ vereint das Lyrik Kabinett heute die Aufgaben einer spezialisierten Bibliothek und eines Archivs, einer Bühne und eines Aufenthalts- und Arbeitsorts für jeden, ob für ihn nun Lyrik Neuland oder vertrautes Terrain, Passion oder Beruf ist. Hier probieren sich SchülerInnen bei einer interaktiven „Wort vor Ort“-Schnitzeljagd aus – das Projekt „Lust auf Lyrik“, geleitet u.a. von Karin Fellner, Andrea Heuser und Tristan Marquardt, setzt aufs Begeistern statt aufs Belehren. Kinder dürfen außerdem Gedichte für den jährlichen Zilpzalp-Kalender auswählen und sie mit eigenen Linolschnitten illustrieren. In der rund 61.000 Medien umfassenden Büchersammlung recherchiert John Burnside zu seiner Lyrikanthologie „Natur!“. Und hierher kommen nicht selten an die 100 BesucherInnen zu einem Abend zur chinesischen oder tschechischen Poesie, zum Rückblick auf 100 Jahre DADA oder zum Gespräch über mittelalterlichen Minnesang zusammen. Um die Wurzeln, poetische Traditionen geht es in diesem Garten genauso wie um die Blüten und Früchte jeder neuen Buchmarktsaison: Das Beste aus den jährlichen poetischen Neuerscheinungen ist unter lyrik-empfehlungen.de zu finden.

„Wichtig ist uns die Autonomie unserer Programmarbeit, die allein dem Stiftungszweck verpflichtet ist: Ausschließlich Lyrik zu vermitteln, aber in ihrer ganzen Vielfalt“, so Holger Pils, der 2014 als Geschäftsführer der Stiftung auf Maria Gazzetti folgte. Mit seinem Team von sechs MitarbeiterInnen sorgt er für den klug kuratierten „Veranstaltungswildwuchs“, also das innovative und formatreiche Programm mit ca. 45 Aktionen im Jahr. Lesungen zeitgenössischer DichterInnen wechseln sich ab mit Spoken-Word-Performances der Reihe „Poetry in Motion“. „Das Lyrische Quartett“ bringt KritikerInnen aufs Podium und die 2019 in Kooperation mit der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ausgerichtete Reihe „Wissenschaft und Poesie“ PoetInnen mit ExpertInnen aus Astronomie und Medizin ins Gespräch. „Fatalyrische Momente“ von Nora Gomringer haben im Programm genauso Platz wie der Dialog mit traditionellen Formen, wie ihn etwa Durs Grünbein in seinen Gedichten führt. Das Atmosphärisch-Einzigartige der Zusammenkünfte von DichterInnen und dem Publikum halten dabei Mittschnitte fest, von denen man einige demnächst auf dem Online-Portal dichterlesen.net abrufen kann. Die poetologischen Reflexionen aus der Reihe „Münchner Reden zur Poesie“ oder die Begegnungen mit LyrikerInnen anderer Epochen bei den „Zwiesprachen“ sind in Publikationen der Verlage Hanser und Wunderhorn nachzulesen. Und zum 30. Geburtstag beschenkt sich – und uns – das Lyrik Kabinett mit der im Dezember erscheinenden Anthologie „Im Grunde wäre ich lieber Gedicht“, aus der auch die hier abgedruckten Texte stammen. Vielen Dank und herzlichen Glückwunsch!

Nora Gomringer
Ich nahm ihn mit
In ein Hotel, das vom Veranstalter gebucht
In ein Bett, das viel zu klein
In mein Herz, das randvoll mit Blut
Er schlief bis früh am Morgen,
zeichnete mir einen Kreis auf meinen Bauch
Ich sagte Kreis, er sagte Jurte
und verschwand. Ich vermute, in die Mongolei.

Durs Grünbein
Zeichentheorie
Nun, da es keinen Kult um Verse mehr gibt,
kann das Studium der Flechten beginnen,
der Flecken und Risse in allen Texturen.
Die Bestimmung der Nebensachen,
die ein Leben sprengen wie Nässe den Stein.
Es sind die schwachen Zeichen, die zählen,
Momente, in denen die Blicke sich kreuzen
und Schicksal weniger ist als das Vielfache
aller vergeblichen Situationen.
Dann kommt ein Satz zustande – ein Wort
zieht das andere nach, zögernd. Sie brechen
das Siegel der Wirklichkeiten,
die Oberflächen zersplittern.
Nun, da es Gedichte wie Packpapier gibt,
einfache, praktische für den Hausgebrauch,
kann der Regen einfach das Wetter sein,
die Sonne unbemerkt untergehen.  

Im Grunde wäre ich lieber Gedicht. Drei Jahrzehnte Poesie.
Eine Anthologie.
Herausgegeben von Michael Krüger und Holger Pils
430 Seiten, Carl Hanser Verlag 2019
30 Euro