Aus dem Nachlass Hans Carossas in der Monacensia

Von Hans-Karl Fischer

Was ich mir bestellen wolle, fragt die Frau hinter der Theke. Ich bestelle mir die Rede Hans Carossas über Alfred Kubin, gehalten in der Galerie Günther Franke im Jahr 1930. Schon immer hatte ich es für ungerecht gehalten, daß der Dichter den Zeichner ein „Mondgesicht“ genannt hat, genauer gesagt, er spricht in seinem Erinnerungsbuch „Führung und Geleit“ von einem „Gesicht, das eher dem Reich des Mondes als dem der Sonne anzugehören schien“.

Drei Tage später bekomme ich das schmale Heft des „Kunstwart“ vom Dezember 1930. „Nicht kopieren!“ steht auf dem kartonierten Deckel; ich weiß, was nun auf mich zukommt. Während ich die Lettern aus dem Buch in mein Heft übertrage, erstaune ich: hier ist nicht von einem geschlossenen Porträt Kubins die Rede, wie in dem drei Jahre später erschienen Buch, sondern von künstlerischer Entwicklung: sie umfaßt freilich nicht die Anfänge beider Künstler, die einander im Frühjahr 1910 durch die Vermittlung von Karl Wolfskehl kennenlernten. Beide waren bereits über dreißig Jahre alt; zum Zeitpunkt der Rede sind sie um die Fünfzig. Es ist in diesen Einführungsworten nicht nur von der Entwicklung des Zeichners Kubin die Rede, sondern auch von der des Dichters Carossa, der im Jahr 1910 als Arzt arbeitete, im Jahr 1930 diesen Beruf gerade aufgegeben hatte. Auch die  langsame Entwicklung ihrer Freundschaft wird nicht außer Acht gelassen; das erste Treffen wird gar als „flüchtig“ bezeichnet.

Alfred Kubin führte Hans Carossa in den ersten Jahren ihrer Bekanntschaft  zur modernen Malerei hin. Bisher war mir ein Tagebucheintrag aufgefallen, in dem Carossa sein Befremden über Jawlenskys Bilder bekundet hatte, in einer Ausstellung, die er im Jahr 1912 mit Kubin in Passau besucht hatte. „Die neue bildende Kunst des Zeitalters war mir bis dahin überhaupt noch ziemlich unbekannt geblieben“, heißt es in der Rede; im Buch wird diese Aussage modifiziert: „Die neue graphische Kunst war mir überhaupt noch nicht Erlebnis geworden; nur eine Reihe herrlich starker Kohlezeichnungen Willi Geigers, meines stürmischen Landshuter Schulgenossen, kannte ich, und einige der berühmtesten Blätter von Max Klinger.“ Dann schreibt er auch noch, daß er das Bild vom „Reich des Mondes“ „halb im Scherz“ hingestellt habe.

Zur Verärgerung Carossas waren Kubin, Klee und er selber im Sommer 1911 in eine Künstlergruppe namens „Sema“ geraten; einer scheinbar unverbindlichen Einladung zu einem Essen Folge leistend, hatten sie sich in einer Zeitung als Gründungsmitglieder des Vorläufers des „Blauen Reiter“ gefunden. Klee und Kubin wechselten bald; Carossa, der, was Malerei betraf, damals noch bei Kubin „studierte“, war als Vertreter der Dichtung eingeladen und in den Künstlerbund aufgenommen worden.

In der Rede über die künstlerische Entwicklung Kubins wird eine klare Trennung vom geängstigten, seine Angst aber auch selber schürenden Zeichner des Jahrs 1910 zum späteren Meister des Phantastischen vollzogen: „Es entsteht nun auch eine altmeisterlich-genaue, mit flinken Federstrichen ausgeführte Ansicht einer Hafenstadt, die ganz der Sonnenwelt angehört.“

Hans Carossa wollte demnach nicht implizit sich selber als Angehöriger des „Sonnenreiches“ ausgeben. Dieser Eindruck kann bei der Lektüre von „Führung und Geleit“ entstehen.

Die Selbststilisierung entstand dadurch, daß Carossa, der etwa zehn autobiographische Bücher schrieb, diese durch ein erzählendes Ich zusammenhielt, das sich dauernd auf seine Herkunft, seine durch diese Herkunft erfahrenen Einschränkungen und auf seine bisher geschilderten Erlebnisse bezieht. Das erzählende Ich weiß sich darin sehr oft einig mit dem erlebenden; dadurch entsteht eine Gestalt, die weit weniger als „Künstlertyp“ zum Vorschein kommt, als dies tatsächlich der Fall war. Bald nachdem er im Oktober 1914 nach München gezogen ist, schreibt der ihn besuchende Kubin an seine Frau Hedwig: „Carossa’s suchte ich noch am Tag auf vis a vis der Türkenkaserne wohnen sie in einer engen Stadtwohnung und er sehnt sich nach Passau oder Seestetten“ (Brief vom 18.Januar 1915). Die Anzahl der Umzüge Hans Carossas in seiner ersten Lebenshälfte kann es mit denen jedes  Bohemiens aufnehmen.

Alfred Kubin stand Hans Carossa schon aufgrund der räumlichen Nähe von Passau und Zwickledt unter vielen Künstlerfreunden am nächsten; überdies war er der einzig Gleichrangige; obwohl auch in der Rede Carossas bei der Vernissage Kubins im Jahr 1930 das „Reich des Mondes“ und das „Reich der Sonne“ einander gegenübergestellt werden, erscheint diese Himmelsaufteilung anders als im Buch: für den Erhalt eines sich als mittig setzenden Ich nötig.