Anna Gschnitzers Leben zwischen Sophokles und Care-Arbeit

Von Marie Türcke

Mit dieser Episode geht die Reihe „jung und schreibend“ auf ihr Ende zu. Und wie man so schön sagt: raus geht man am besten mit einem Knall. In diesem Fall: Anna Gschnitzer, Schriftstellerin, Care-Arbeiterin, Klassenkämpferin.

Anna Gschnitzer schreibt über Klassismus, Scham, das Imposter Syndrom (Hochstapler-Syndrom), übers Zerrissensein zwischen zwei Welten, über Care Arbeit, Feminismus und Sprache, über Erschöpfung und radikale Selbstfürsorge. Aber auch über sich selbst spricht sie offen, ehrlich und vielleicht auch mit einer gewissen Distanz, als wäre sie es gewohnt, sich selbst immerzu zu beobachten und einzuordnen.

Geboren in Südtirol in einer so genannten „bildungsfernen“ Familie, wächst Anna Gschnitzer eher fern von Kunst und Literatur auf. Aber Deutsch in der Schule wird schnell ihr Lieblingsfach, ihre Mutter sieht ihrer Tochter das an, bringt sie in die Bibliothek. Sie leiht sich selbst nichts aus, aber die Tochter hat eine ganze Welt an Büchern für sich. Ihre Mutter habe immer diese Bildungssehnsucht in sich gehabt, sagt Gschnitzer. Ob sie jetzt eine stolze Mutter sei? Ja, kommt es mit einem Lächeln von Anna Gschnitzer, ja, sehr stolz.

Nach dem Schulabschluss weiß Gschnitzer nicht so genau, was sie werden will, aber ganz klar muss es mit Literatur zu tun haben. Etwas in einem Verlag, Texterin, auf jeden Fall mit Worten arbeiten. Sie zieht nach Wien und studiert Vergleichende Literaturwissenschaften. Dort trifft sie auf Menschen, die wie sie sind und irgendwie auch nicht. Medien-Künstler*innen, Journalist*innen, Filmemacher*innen, alles Leute, die mit ihr Interessen teilen, ihre Meinung hören wollen, aber Berufswege eingeschlagen haben, die Gschnitzer sich für sich selbst noch nicht vorstellen konnte. Sie ermutigen sie, zeigen ihr auf, dass ihre Geschichte und ihre Ideen gehört werden wollen. Eine Mitbewohnerin erzählt ihr von einem neuen Studiengang an der Universität für angewandte Kunst: Sprachkunst. Gschnitzer bewirbt sich und kommt rein. „Wenn ich nicht diese Freundinnen gehabt hätte, die mich dazu ermutigt haben, würde ich jetzt nicht schreiben.“ Bei der Bewerbungsrunde damals wird zu ihr gesagt, dass sie ja sicher schon lange schreibe. Gschnitzer lügt, natürlich, Literatur und das Auseinandersetzen mit selbiger seien etwas ganz Selbstverständliches in ihrem Leben. Immer wieder ist ihr das später begegnet: dass Schreiben mit einem bestimmten Dasein, einer bestimmten Klasse assoziiert wird, dass Schreibende Zeit und Muße haben und immer gehabt haben sollten.

Gschnitzer arbeitet von Anfang an eng mit Regisseurinnen am Theater zusammen, sie sieht sich nicht als die isolierte Einzelkünstlerin, ihre Arbeiten entstehen auch in diesem Miteinander. Erste kleine Aufführungen ihrer Texte in Theatern in Wien, dann eine erste Aufführung im Theater „Rampe“ in Stuttgart. Sie finanziert sich zum Teil mit den Stücken, aber auch mit Stipendien. Preise sind schwierig, für Preise müssen die Texte unveröffentlicht, sozusagen frei sein. „Freischwebend einen Text schreiben und hoffen, dass er den großen Preis gewinnt, hätte es in meiner Realität einfach nicht gegeben.“ Literatur ist für Gschnitzer jetzt schon mehr als nur Kunst, sie ist auch Handwerk, Finanzquelle. Später zieht sie mit ihrem Partner nach München, arbeitet als Dramaturgin am Residenztheater und den Kammerspielen, u. a. unter Lilienthal.

Mit ihrer Schwangerschaft kommt dann der Zeitpunkt für eine Entscheidung: Care Arbeit, einen Job und Schreiben, das geht sich nicht aus. Sie entscheidet sich fürs Schreiben und seit drei Jahren jetzt, mit der Geburt ihrer Tochter, ist Gschnitzer Vollzeit freischreibende Autorin. Das macht riesigen Spaß, aber es ist auch anstrengend. „Schreibend setzt man sich mit der Welt auseinander, und obwohl man eigentlich in einem geschützten Raum zuhause sitzt, ist man eben doch gar nicht geschützt.“ Das überrascht nicht bei Gschnitzers Themen.

Gerade arbeitet sie an drei Stücken parallel. Im Januar wird im Theaterhaus Jena „Die Entführung der Amygdala“ uraufgeführt. Es geht darin um eine Frau, die einen Fahrradunfall hat und sich danach nicht mehr daran erinnert, Kinder gehabt zu haben. Während die Frau im Koma liegt, spricht ihre Amygdala zu ihr. Die Amygdala ist der Teil unseres Gehirns, in dem unter anderem Wut, Angst, Sorge und Verantwortungsgefühle entstehen. Im Stück geht es um Gleichberechtigung, aber auch um die Frage, warum gesellschaftliche Teilhabe und Emanzipation so sehr mit beruflichem Erfolg und Leistung verknüpft sind und welche Konsequenzen das für Menschen hat, die Care-Arbeit leisten müssen oder wollen.

Anfang Mai 2024 wird im Schauspielhaus Wien „Capri“ uraufgeführt. Hier stehen zwei Protagonistinnen im Mittelpunkt, Mutter und Tochter. Die Mutter aus der Arbeiterklasse, die Tochter eine Klassenübergängerin, die ihre Mutter mit in den Urlaub nehmen möchte. Schließlich ist Urlaub gut gegen Erschöpfung. Doch wie sorgt man sich eigentlich richtig um sich selbst? Wer kriegt beigebracht, wie Urlaub geht, Wellness? Selbstfürsorge ist auch Klassenangelegenheit, wir haben nicht alle gleich gelernt, wie Selfcare geht. Und zuletzt, Ende Juni, hat sie auch noch eine Bearbeitung von Sophokles Antigone in Mainz geplant.

Sie würde sich manchmal wünschen, dass die Frequenz, in der sie liefern muss, ein wenig geringer wäre, sie ein wenig mehr Zeit hätte für jedes Stück.Und sie würde sich wünschen, dass man nicht nur durch das große Glück tolle Freundinnen zu haben ein Schlupfloch ins literarische und künstlerische Leben finden kann, sondern dass institutionelle Hürden – vorausgesetzt, das Schreiben stünde allen gleichermaßen offen – erkannt und systematisch abgebaut werden.

In unserer Serie „Jung und schreibend“, in der wir junge Münchner Autor*innen vorstellen, porträtierten wir bisher Lisa Jeschke, Leander Steinkopf, Daniel Bayerstorfer, Katharina Adler, Benedikt Feiten, Caitlin van der Maas, Samuel Fischer-Glaser, Vladimir Kholodkov, Annika Domainko, Jan Geiger, Ines Frieda Försterling, Rebecca Faber, Natascha Berglehner, Tristan Marquardt, Martin Kordić, Moritz Hürtgen, Bernhard Heckler, Joana Osman, Mira Mann, Slata Roschal, Krisha Kops, Lea Rieck, Andrej Murašov und Dominik Wendland.