Wie immer zur Weihnachtszeit empfehlen Redaktionsmitglieder der LiteraturSeiten München eines ihrer Lieblingsbücher des Jahres.

Nachdenkliches
Von Michael Berwanger
Viel ist schon geschrieben worden über den Umgang mit dement werdenden Familienmitgliedern, sei es Vater, Mutter oder Lebenspartner*in. Wie aber soll man sich verhalten, wenn bei einem engen Vertrauten oder bei der besten Freundin die geistige Kraft nachlässt? Stellt das die Freundschaft infrage, und kann man sich dann noch auf Augenhöhe begegnen? Der Sozialpädagoge Peter Wißmann hat sich in seinem Erzählband „Überschattet“ diesem Problem gewidmet. Er schildert den Freundschaftsverlauf zu einem engen Bekannten namens Christian, der versucht, offen mit seiner Krankheit umzugehen, was nur selten bei Alzheimer-Patienten vorkommt. Die Geschichten dieser Freundschaft sind oft rührend, aber auch lustig und nicht selten erstaunlich. Wißmann zeigt, dass eine Freundschaft zu einem*r Demenz-erkrankten nicht zwangsläufig in die Leere führen muss. Obwohl die geistige Kraft langsam verloren gehe, seien die Betroffenen oft besser fähig, auf kleine Details zu achten und die Dinge des Alltags wertzuschätzen. Ein nachdenkliches Buch für die Tage zwischen den Jahren.

Peter Wißmann: Überschattet
Erzählungen
Broschur, 144 Seiten
Mabuse-Verlag,
Frankfurt a. M. 2024
17 Euro

Untergang
Von Stefanie Bürgers
Tellerstapel in einer Garküche, ungemachte Betten, die anrührende Skulptur eines schlafenden Jungen, der sich einrollt, wie Kinder heute auch. Die Situation in Pompeji sei einmalig, so Zuchtriegel, seit April 2021 Direktor des Weltkulturerbes. Erstarrt durch die rasche Verschüttung nach dem Vulkanausbruch 79 n. Chr. verraten die gut erhaltenen Ensembles viel über das damalige Leben. So belegen eine Grabinschrift die Einwohnerzahl und dunkle Sklavenkammern, dass es nicht nur mit Fresken ausgeschmückte Villen gab. Mit Bildern aus Filmen oder dem Lateinbuch sind kalte Winter oder ernste Versorgungsprobleme nicht vereinbar. Wie sollen wir einordnen, was wir sehen? Zuchtriegel bringt Fragestellungen auf, die dem Wandel der Gesellschaft geschuldet sind. Ein Fresko: Dionysos entblößt die schlafende Ariadne. Heute ein Übergriff. Doch in der Antike gab es kein Wort für Vergewaltigung. Gibt es auch heute Dinge, für die wir keinen Begriff haben? Darum geht es dem Autor. Im Bezug zur Gegenwart sich vom Leben in der Antike emotional berühren zu lassen. Spannend!

Gabriel Zuchtriegel: Vom Zauber des  Untergangs – Was Pompeji über uns erzählt
Hardcover, 240 Seiten
Propyläen, Berlin 2023
32 Euro

Anschnallen bitte
Von Sevda Cakir
Die multimediale Künstlerin, Autorin und Filmemacherin Cemile Sahin hat bereits für ihr Schreiben und ihre künstlerischen Arbeiten Preise erhalten. Nun erzählt sie in ihrem dritten Buch „Kommando Ajax“ die rasante Geschichte einer im Exil überlebenden kurdischen Familie aus Dersim, vertrieben aus ihrem Dorf, in der heutigen Türkei. In Rotterdam gerät sie ahnungslos in die Fänge einer Kunstmafia. Wie ein Actionfilm geschrieben, beginnt die spannungsgeladene Story 1995 auf einer Hochzeitsfeier, führt mit hohem Lesetempo und vielen Zeitblenden über den Globus, kreuz und quer, drei Jahrzehnte lang, und endet 2025 in der nahen Zukunft. Hier angekommen, schweißgebadet, mit erhöhtem Redebedarf, um den Stoff zu verarbeiten, hilft nur, davon zu erzählen! Im Gegensatz zu ihren früheren Werken hat Sahin diesmal dem Humor viel Platz eingeräumt. So darf immer wieder gelacht werden, obwohl die Ereignisse, die die Autorin aus dem wirklichen Leben als Grundlage nimmt, erdrückend sind.

Cemile Sahin: Kommando Ajax
Roman
Hardcover, 352 Seiten
Aufbau Verlag, Berlin 2024
25 Euro

Leben danach
Von Markus Czeslik
Securitate! Dieses Wort wird bei vielen Menschen heute noch Beklemmung auslösen. Viel zu lange durfte der 1948 gegründete rumänische Geheimdienst unter Diktator Ceauşescu sein Unwesen treiben. Von diesen Schrecken weiß der kleine Sabin nichts, als er mit Mutter und Schwester seinem Vater Béla ins unbekannte Deutschland nachreist. Ein großes Abenteuer beginnt für den Jungen, der zwischen Geigen- und Schauspiel versucht, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden. Dann der harte Cut. Quasi dokumentarisch wird im zweiten Teil geschildert, wie der Großvater Kälte, Hunger und Folter unschuldiger in Haft durchleiden muss. Abschließend schwenkt die Geschichte auf die hoffnungsvolle Perspektive des Vaters. Er riskiert zunächst allein die Flucht aus einem (Vater-)Land, in dem kein menschenwürdiges Leben mehr möglich ist. Schauspieler und Autor Sabin Tambrea („Die Herrlichkeit des Lebens“) zeigt eindrucksvoll über drei Generationen, wie ein Unrechtsstaat den Menschen in die Knie zwingt, aber auch, wozu Menschen fähig sind, wenn sie die Hoffnung nicht verlieren.

Sabin Tambrea: Vaterländer
Roman, Hardcover
368 Seiten
Gutkind Verlag
Berlin 2024
24 Euro

„Schutzraum“
Von Katrin Diehl
In Israel ist Agi Mishol, Tochter von Holocaust-Überlebenden, als Lyrikerin längst bekannt. Mit dem Band „Gedicht für den unvollkommenen Menschen“ wurde sie zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt (sehr einnehmend von Anne Birkenhauer), womit sie hierzulande zu einer hörbaren Stimme nach dem 7. Oktober geworden ist. Obwohl es genau ein Gedicht ist – „Schutzraum“ –, das direkt mit dem terroristischen Überfall der Hamas konfrontiert, ist kein Wort wirklich frei von unverarbeiteter Erinnerung. Der sprachliche, inhaltliche Aufbau von Distanzen verlangt nach gesteigerter Konzentration, auch noch anderes wahr-, aufzunehmen. Und dabei ist es gerade der Zauber des Alltags, der in Mishols Lyrik atemberaubend Einzug hält, ist es die Natur, die zu retten versucht. In „Verantwortung“ heißt es: „Im Hof hinterm Haus / blüht heute / (für einen Tag) / dieser Kaktus dessen Namen / ich nicht weiß / wenn ich ihn nicht anschaue – / wer sieht ihn dann?“

Agi Mishol:  Gedicht für den unvoll-kommenen Menschen
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Hardcover, 100 Seiten
Gedichte Edition Lyrik Kabinett bei Hanser
Berlin 2024
24 Euro

Familienwunsch
Von Ursula Sautmann
In ihrem neuesten Buch beschreibt Ulrike Draesner, wie sie und ihr (Noch-)Ehemann ein Kind adoptieren. Das Kind, drei Jahre alt, lebt in einem Kinderheim in Sri Lanka. Die Eltern durchleben verschiedene Prozesse: der Entscheidung, der Annäherung an das Kind, der Entfernung voneinander und schließlich dieses ganz besonderen Alltags mit einem Kind mit hierzulande auffallender Hautfarbe. Es ist kein echter Roman, den die Autorin hier vorlegt, eher eine Art literarische Dokumentation. Sie beobachtet fein – das Kind und den Mann –, sie fasst ihre Beobachtungen in Worte, die Personen und Beziehungen Leben einhauchen. Und sie reklamiert leidenschaftlich, die Würde von Kindern immer und überall zu schützen. Ganz nebenbei erfahren Leserinnen und Leser auch noch eine Menge über Sri Lanka und den Adoptionsprozess hier wie dort. Das Buch ist ein wundervolles Weihnachtsgeschenk für alle, denen „zu lieben“ eine Herzensangelegenheit ist. Und es könnte der Einstieg sein in das Gesamtwerk der Autorin, das zu lesen sich das ganze Jahr über lohnt.

Ulrike Draesner: zu lieben
Roman (durchgestrichen)
Hardcover, 344 Seiten
Penguin Verlag
München 2024
24 Euro

Empfehlung für Kinder

Kinderkalender
Seit mehr als zehn Jahren begleitet der Kinderkalender der Internationalen Jugendbibliothek Kinder Woche für Woche durch das Jahr mit Bildern und Gedichten aus 36 Ländern in 32 Sprachen. Die Kinder erfahren ganz spielerisch, was sie mit anderen Kindern überall auf der Welt gemeinsam haben. Jeden Montag wartet ein neues zweisprachiges Gedicht – heiter, nachdenklich oder träumerisch. Der Kinderkalender der IJB wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet und gehört als Schatztruhe in alle Kinderzimmer, ob in der Familie, im Kindergarten oder in der Schule.      us

Der Kinderkalender 2025
Mit 53 Gedichten und Bildern aus der ganzen Welt. Multilingual
Ausgewählt und herausgegeben von der Internationen Jugendbibliothek
Moritz Verlag, 60 Seiten, ab 6 Jahre
25 Euro