Armer „grüner Heinrich“
Gottfried Kellers kurzer München-Aufenthalt verewigt auf einer Gedenktafel in der Neuhauser Straße

Von Markus Czeslik

Im Jahr 1840 hatte München mal wieder die Seuche – der Typhus wütete in der Stadt. In der Neuhauser Straße 35, gegenüber der Bürgersaalkirche, wälzte sich der 21-jährige Gottfried Keller in seinem Bett und rang mit seinem Leben. Dass er es behielt, hatte er wohl letztlich dem Umstand zu verdanken, nicht in ein Hospital eingewiesen worden zu sein. Denn dort starb es sich noch leichter.

Mit großen Hoffnungen war Keller von Zürich in die Landeshauptstadt gezogen, gar nicht mal, um eine Dichter-Karriere zu starten, sondern mit dem Wunsch, als Landschaftsmaler zu reüssieren. Mit den besten Vorsätzen schrieb er sich in die Königliche Akademie der Künste ein und war zunächst davon begeistert, wie München, das „gelobte Land“, leuchtete.

Seine Stimmung schlug schnell um. Keller musste feststellen, dass es auf der Akademie nicht mal Lehrer für die Landschaftsmalerei gab. So war er mit seinem Studium sich selbst überlassen. Bei seinen Streifzügen durch die Stadt beobachtete er verwundert, wie die „Weibsbilder“ aus dem Bürgertum allabendlich in der Kneipe saßen und Bier tranken – die feinen Damen nicht anders, nur dass sie ihre Biere im Kaffeehaus tranken. Das kannte der gebürtige Schweizer so nicht. Keller selbst war kein Kind von Traurigkeit, was die Kneipenbesuche anging. Oft zog es ihn hinaus bis zur Waldgaststätte in Großhesselohe. Ansonsten litt er große Armut und lebte meist in den Tag hinein – immer am Existenzminimum. Seine Mutter verkaufte später sogar ihr Haus, um ihm finanziell unter die Arme zu greifen. In der Liebe wie in der Malerei blieb er ein Pechvogel. 1843 reimte er schließlich über München:

Ein liederliches, sittenloses Nest
voll Fanatismus, Grobheit, Kälbertreiber,
voll Heil‘genbilder, Knödel, Radiweiber.

Dass er sich eine Zeitlang über Wasser halten konnte, lag wohl auch an der Schweizergesellschaft, mit der er sich im „Wagnerbräu“ in der Neuhausergasse 12 und später im Lokal „Zur blauen Taube“ vor dem Sendlinger Tor regelmäßig traf. „Strabo“ (Schieler), wie man ihn nannte, verdiente sich dort ein paar Gulden als Zeitungsredakteur hinzu.

Keller trat außerdem dem Kunstverein am Odeonsplatz bei, wo es wohl im Jahr 1841 zur zufälligen Begegnung mit keinem Geringeren als Ludwig I. kam. Der König fragte ihn direkt: „Auch Künstler?“ Kellers überlieferte Antwort: ein selbstverständliches „Ja“. Später sollen sich die beiden noch mal über den Weg gelaufen sein. Aber auch dieses Erlebnis verlieh seiner Künstlerkarriere keinen Schwung. Keller konnte die Miete nicht mehr aufbringen und zog 1842 notgedrungen ein letztes Mal um, von der Lerchenstraße 14 (heute Schwanthalerstraße) in die Schützenstraße 3. Im Herbst musste er endgültig die Flucht vor seinen Gläubigern antreten. Das Zugticket zurück nach Zürich erstand er nur durch den Verkauf seiner Aquarelle und Zeichnungen. Die literarische Nachwelt darf letztlich dankbar sein, dass Keller in der Malerei keine große Aufmerksamkeit erzielte – umso mehr Erfolg war seinem Schreiben vergönnt. In dem größtenteils autobiografischen Bildungsroman „Der grüne Heinrich“, schreibt Keller alias Heinrich Lee hauptsächlich über sich selbst und auch über sein Scheitern in München.

Immerhin hält es der Romanheld sieben Jahre in der Stadt aus. Mit einer Mischung aus Faszination und Neid blickt Heinrich auf das Treiben in Isar-Athen: „Aus Kirchen und mächtigen Schenkhäusern erscholl Musik, Geläute, Glocken- und Harfenspiel … unter offenen Hausfluren saßen wohlgenährte Spießbürger hinter gebratenen Gänsen und mächtigen Krügen und genossen den lauen Frühlingsabend … Es war ein unendliches Gesumme überall.“

Nur ein einziges Mal kehrte Keller nach München zurück, 1874, dem Jahr, in dem fünf weitere Novellen von „Die Leute aus Seldwyla“ veröffentlicht wurden. Da war der Vertreter des bürgerlichen Realismus bereits ein angesehener Schriftsteller.

Bisher in der Reihe erschienen:
Gedenktafel für Franziska zu Reventlow an der Leopoldstraße 41 und für B. Traven an der Clemensstraße 84