Wie immer zur Weihnachtszeit empfehlen Redaktionsmitglieder der „LiteraturSeiten München“ ihre Lieblingsbücher des Jahres.

Zwischen Ost und West
„Eldest Immigrant Daughter“: Was nach einem stolzen Titel klingt, ist für die Erzählerin Didi eine Bürde. Die älteste Tochter in einer Anfang der 1990er Jahre aus dem slowakischen Bratislava nach Wien ausgewanderten Familie zu sein, heißt vor allem, eine dauerhafte Mehrfachbelastung zu stemmen. Von klein auf jongliert Didi mit mehreren Rollen und Funktionen – der glänzenden Einser-Schülerin und Nachhilfelehrerin für ihren jüngeren Bruder, der Kulturvermittlerin und Dolmetscherin, die die Eltern bei den Behördengängen und Bewerbungsgesprächen begleitet. Niemals darf sie versagen, nie darf sie auffallen – und immer muss sie besser sein als die anderen. Dieser immense Erwartungsdruck entfernt sie zunehmend von ihrem Vater. Mehr als zehn Jahre lang haben sie keinen Kontakt mehr – bis Didi von ihm einen Anruf aus dem Krankenhaus erhält. Kann sich die Tochter dem Vater und seinem „Ostblockherz“ wieder nähern? Finden sie zu einer Sprache der Geborgenheit zurück? Der schmale Roman mit autobiografischen Zügen erzählt schnörkellos und überzeugend von Migration, Identität und Zugehörigkeit.
Slávka Rude-Porubská

Didi Drobna: Ostblockherz

Roman, 176 Seiten
Piper Verlag München, 2025
22 EUR

Lügen und ihre Folgen
Naomi und Juval sind ein ganz normales Ehepaar in Israel. Ihr Kind, es hat gerade laufen gelernt, wirft einen Hammer von der Balkonbrüstung, der Hammer tötet einen jungen Araber. Umgehend wird der arabische Arbeiter verdächtigt, der sich bei dem Ehepaar in der Wohnung aufhielt, sein Sohn fällt fast einem Lynchmord zum Opfer. Naomi behält die Wahrheit zu lange für sich, es beginnt eine Kaskade von Ereignissen und neuen Lügen, die wie ein Krimi den/die Leser*in in den Bann ziehen. Es ist ein Buch über Beziehungen und die Bedeutung von Wahrhaftigkeit und auch ein Buch über die Vorurteile und Ängste, die die Gesellschaft in Israel zu zerreißen drohen. Ayelet Gundar-Goshen ist Psychologin und Autorin, in ihren Werken spielen Lügen und ihre Folgen im Großen einer Gesellschaft wie im Kleinen einer Beziehung eine bedeutende Rolle. Ihr Stil ist prägnant, bringt Gefühle und Ereignisse auf den Punkt.
Ursula Sautmann

Ayelet Gundar-Goshen: Ungebetene Gäste
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Roman, 315 Seiten
Kein&Aber 2025
25 Euro

Japan hin und zurück
„Eine Tasse Tee ist mit geschlossenen Augen im Schneidersitz auf dem Teppich zu trinken.“ Zwischen den Kulturen, zwischen den Generationen wachsen Spannungen, fließen Ströme, passieren Reaktionen. „Onigiri“, eigentlich die Bezeichnung dieser in der japanischen Küche allgegenwärtigen Reisbällchen, lautet der Titel des autobiografisch inspirierten ersten Romans der Münchner Autorin Yuko Kuhn. Und was an ihm besticht, ist, wie sehr er trotz des sehr zurückgenommenen, unaufdringlichen, sachlichen Tons wie Stils aufs Tiefste berührt. Die Mutter Keiko ist jetzt also bei der Tochter in Deutschland, in Bayern, lebt dort, sitzt dort auf dem Sofa und schlägt immer einmal wieder unvermittelt die Hände vors Gesicht, was so mittelviel bedeutet. Als ob eine Mutter-Tochter-Beziehung nicht schon genug Stoff böte, clashen hier noch unterschiedliche Kulturen und Traditionen aufeinander, zudem verliert Keiko nach und nach ihr Erinnerungsvermögen, erkrankt an Demenz. Bei einer (letzten) gemeinsamen Reise nach Japan passiert Wunderliches, kehrt Leben in die Mutter zurück mit jedem Geruch, mit jedem Ton, mit jeder Vertrautheit.
Katrin Diehl

Yuko Kuhn: Onigiri
Roman, 200 Seiten
Hanser Verlag, Berlin 2025
23 Euro

Grenzerfahrungen
Paul Lynch schildert in seinem preisgekrönten „Lied des Propheten“ die Folgen willkürlicher Militärgewalt. In „Jenseits der See“ ist es die Natur, die den Menschen um seine nackte Existenz kämpfen lässt. Der Fischer Bolivar überredet den jungen Hector, mit ihm aufs Meer zu fahren, obwohl ein Sturm droht. Es dauert nicht lange, bis sie mit ihrem Boot in unerreichbare Ferne katapultiert werden und als Spielball für Sonne, Wind und Kälte ziellos über das grenzenlose Wasser treiben. Aus der zwangsläufigen Nähe zwischen beiden Männern entwickelt sich eine Freundschaft, die auf eine extreme Probe gestellt wird.
Lynch geht der Frage nach, aus welchen Ressourcen wir angesichts des Todes schöpfen können, und schildert mit unglaublicher Intensität, wie sich Körper und Geist duellieren und das Ich schrittweise auseinanderfällt. Seine Figuren drohen zu zerreißen zwischen Wahn und körperlichem Verfall, zwischen Hoffnung und Glauben, Resignation und unmenschlichem Willen. Eine literarische Grenzerfahrung.
Markus Czeslik

Paul Lynch: Jenseits der See
Roman, Hardcover, 192 Seiten
Klett-Cotta Stuttgart, 2025
22 Euro

Weg zum Frieden
Joana Osman beschreibt in ihrem dritten Buch „Frieden. Eine reale Utopie“, wie wir alle, die den Wunsch nach „positivem“ Frieden spüren, diesem näherkommen können. Indem Individuen einem 10-Schritte-Plan folgen und somit von klein auf den Plan verinnerlicht haben, können sie es schaffen – innerhalb eines Kollektivs das unantastbare Fundament der Friedensarbeit schützend – diesen Plan umzusetzen. Mit Beispielen, die aus persönlichen Erfahrungen in Konfliktregionen stammen und mit lang beobachteten Untermauerungen aus wissenschaftlichen Beiträgen angereichert sind, führt die Schriftstellerin ihre Leserschaft zu ihrem Wunsch hin. Danach wäre es nicht mehr utopisch, dass Mitglieder zunächst einzeln, dann gemeinsam für eine friedliche Welt zusammenkommen. Osman lebt es vor – als Friedensaktivistin! Die Autorin ist auch in ihren Lesungen eine gern gefragte Expertin, die unterschiedliche Perspektiven vermittelt, um eine Begegnung der jeweiligen Betroffenen innerhalb eines Konfliktes zu ermöglichen.
Sevda Cakir

Joana Osman: Frieden.
Eine reale Utopie
, 128 Seiten
Penguin München 2025
20 Euro

… hinter tausend Stäben
Bei Rilke denken viele an das gleichnamige Projekt mit den süßlichen Vertonungen und dem pathetischen Geraune. Rainer Maria Rilke war aber mehr als ein Verfasser von sinnspruchhafter Gebrauchslyrik. Er lebte an verschiedensten Orten und reiste durch halb Europa, übertrug 56 Autor*innen aus acht Sprachen und schrieb selbst auch rund 400 französische Texte. International ist auch die Wirkung von Rilkes Werk, das weltweit gelesen und rezipiert wird. Im Gedenkjahr (Rilke würde heuer 150 Jahre alt) haben das Deutsche Literaturarchiv Marbach und das Lyrik Kabinett Rainer Maria Rilke ein ganz besonderes Projekt gewidmet: Sechzehn Lyriker*innen aus Belarus, Brasilien, China, Deutschland, England, Frankreich, Iran, Israel, Nicaragua, Schweden, Slowenien, Taiwan und den USA wurden gebeten, Archivalien aus den Rilke-Beständen des Deutschen Literaturarchivs zum Ausgangspunkt eigener Texte zu nehmen. In Lyrik und Prosa spiegeln sie eigene Rilke-Leseerfahrungen wider und werfen Schlaglichter auf die Rilke-Rezeption in den jeweiligen Ländern.
Michael Berwanger

Holger Pils, Sandra Richter, Lisa Jay Jeschke (Hrsg.)
Rilke international – Zeitgenössische Echos auf Rilkes Lyrik
Broschur, 178 Seiten
Deutsches Literaturarchiv Marbach, 2025
20 Euro