[LiSe 03/14] Büchersammler (Folge 6 und Schluss)

Mit Gedichten gegen die Vulgarität des Herzens

Ursula Haeusgen sammelt Lyrik

50.000 Bände Lyrik hat Ursula Haeusgen in einem viertel Jahrhundert zusammen getragen. Seit 2005 steht dieser Schatz den Münchner im Lyrik Kabinett im Hinterhof der Amalienstraße 83 zur Verfügung. Für die Sammlerin gehört das Gedicht zum Leben wie die Luft zum Atmen. Deshalb ist es für sie selbstverständlich, ihre Sammlung als Bibliothek öffentlich zugänglich zu machen. Tagtäglich sichtet sie Neuerscheinungen und Erstausgaben, stellt Kontakte her zu in- und ausländischen Poeten und organisiert ihnen eine Bühne im Veranstaltungssaal inmitten von Bücherschränken. Und ganz nebenbei sammelt sie auch noch Künstlerbücher und Arbeiten der bildenden Kunst.

Gedichte haben Ursula Haeusgen schon immer in einer ganz besonderen Weise angesprochen. Gedichte, sagt sie, gibt es in jeder Sprache. Und es gibt sie von Anbeginn an. Klagen, Anrufungen, Gebete, Zaubersprüche, Sprachspielereien, sie alle stehen für das Bedürfnis der Menschen, nicht nur sich auszudrücken, sondern sich die Welt und das Leben verständlich zu machen. Gern zitiert die gebürtige Münchnerin Johann Georg G. Hamann, der die Poesie als „die Muttersprache des Menschengeschlechts“ bezeichnete. Gedichte können verzaubern, und sie können verstören; ohne Wirkung sind sie nie. Und sie entfalten ihre Wirkung auf die Seele in einer ganz besonders konzentrierten Weise.

Es war kein gerader Weg vom Bücherregal mit Lyrikbänden zum Lyrik Kabinett in der heutigen Form. Als ihre drei Kinder erwachsen waren, eröffnete Ursula Haeusgen in einem zum Abriss bestimmten Bürohaus in einer Seitenstraße der Maximilianstrasse eine kleine Lyrik-Buchhandlung, neben den lieferbaren Büchern bereits damals auch mit antiquarischen und Künstlerbüchern. Auch Lesungen gehörten schon damals zum Programm und fanden durchaus ein Publikum. Dann wurde das Haus tatsächlich abgerissen. „Da“, sagt die Lyrikliebhaberin heute, „habe ich einen großen Fehler gemacht. Ich habe einen Laden in der Maximilianstrasse gemietet, weil ich dachte, nicht weit entfernt von den Museen und in der Nähe vieler Galerien würde ich in der Woche doch zumindest ein Künstlerbuch verkaufen und käme damit bezüglich der Miete auf plus/minus Null. Das war ein Irrtum. Es kamen zwar viele Künstler, selbst aus Amerika, um mir ihre Bücher anzubieten – aber Liebhaber oder Kunden dafür gab es nur sehr wenige.“ Sie musste die Buchhandlung schließen. Doch die Liebe zur Lyrik und den Wunsch, diese Liebe zu teilen, ließ sie sich nicht austreiben.

Die Jahre der Wanderschaft begannen. Vorübergehend bahnte sich eine Möglichkeit zur Kooperation mit dem neu gegründeten Literaturhaus an. Die Zusammenarbeit mit der Universität und dem damaligen Lehrstuhl für Komparatistik erwies sich aber als nachhaltiger. Nach verschiedenen Stationen und verschiedenen Lesungsorten zog das Lyrik Kabinett, das die Sammlerin inzwischen in einen Verein überführt hatte, in die Seminarräume von Prof. Hendrik Birus. Und als diese für die wachsende Bibliothek zu klein wurden, übertrug sie einen größeren Teil ihres Erbes in eine Stiftung, um endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Die Stiftung pachtete den Hinterhof in der Amalienstraße von der Universität und eröffnete 2004 das Lyrik Kabinett, wie die Münchner es heute kennen.

Die Sammlung umfasst fünf Bereiche. Deutschsprachige Lyrik sowie Übersetzungen ins Deutsche bilden die Grundlage, Lyrik in englisch-, französisch-, spanisch- und italienischsprachigen Originalausgaben sowie einzelne Bände in allen möglichen Sprachen runden die Sammlung ab, antiquarisch erworbene Bände machen einen nicht kleinen Teil der Sammlung aus, Künstlerbücher zum Thema Poesie sind immer noch ein ergänzendes Steckenpferd der Sammlerin. Jährlich kommen etwa 1500 Monographien hinzu, 42 Literaturzeitschriften sind fest abonniert. Der Bestand ist nach den Regeln des Bayerischen Bibliothekverbunds katalogisiert. Es gibt drei PC-Arbeitsplätze. Und wer lesen (und studieren oder auch nur genießen) will, tut dies in der stillen Obhut von Kunstwerken, die Münchner Künstler nicht eben selten in tiefer Verbundenheit zur Stifterin geschaffen haben. Architektur und Einrichtung der Bibliothek strahlen Frohsinn aus – die Leser(innen) mögen es überprüfen.

Das Lyrik Kabinett will Lust auf Lyrik machen und pflegen. Die Instrumente sind zahlreich, neuerdings werden sie in Gang gesetzt von Dr. Holger Pils, der am 1. Januar die Geschäftsführung übernommen hat. Da gibt es zum einen die regelmäßigen Lesungen, mal mit zeitgenössischen Autoren, mal über Schriftsteller früherer Generationen. Fremdsprachige Autoren lesen immer auch in ihrer Muttersprache. Im Veranstaltungsprogramm finden sich Poetry Slams ebenso wie Diskussionsrunden („Neueste deutsche Lyrik“). Die „Münchner Reden zur Poesie“ bieten ein Forum in Heftform für die Positionierung der Dichtung im großen Rahmen der Literatur. Das Lyrik Kabinett betätigt sich also auch als Kleinstverlag und arbeitet unter anderem mit der Bayerischen Staatsbibliothek, der Israelitischen Kultusgemeinde, dem Bayerischen Rundfunk, der Künstlerseelsorge und verschiedenen Kulturinstituten zusammen.

Der Mensch braucht die Dichtung, und Dichtung braucht ein Publikum, dafür steht die Lyriksammlerin Ursula Haeusgen, denn die Poesie ist – und auch hier zitiert die Sammlerin – „die einzig verfügbare Versicherung gegen die Vulgarität des Herzens“ (Joseph Brodsky).
Ursula Sautmann

Die Bibliothek ist geöffnet Montag und Mittwoch von 10 bis 13 Uhr, Dienstag und Donnerstag von 15 bis 21 Uhr (an Veranstaltungstagen nur bis 18 Uhr), Samstag von 12 bis 18 Uhr. Das Programm findet sich unter www.lyrik-kabinett.de und in den LiteraturSeiten München.

[LiSe 02/14] 8. Münchner Bücherschau junior 2014

Am 8. März ist es wieder soweit und das Münchner Stadtmuseum am St.-Jakobs-Platz wird zum Kinderbuch-Eldorado für alle Kinder von drei bis 13 Jahren. Rund 5000 Bücher und Kindermedien stehen bereit zum Schmökern und Entdecken und ein kunterbuntes Rahmenprogramm mit bekannten Autorinnen und Autoren wird für Besucherandrang sorgen. Ergänzend gibt es Sonderausstellungen zu den Illustrationen aus den beiden Bilderbüchern „Die Tränen des Kamels“ von Linda Wolfsgruber und „Frechvogel und Mutkröte“ von Daniela Chudzinski, die auch im Kindergarten- und Schulklassenprogramm lesen wird.

Aus ihren neuesten Büchern lesen Ulrich Hub, Christine Merz, Isabel Abedi, Annette Langen, Benedikt Weber und viele andere. Mit Peter Laufmann erfahren die jungen Zuhörerinnen und Zuhörer spannende Details über die Migranten der Natur oder die Älteren mit Bestsellerautor David Safier über Widerstand im Warschauer Ghetto. Kinder und Eltern sind bei der Münchner Bücherschau junior wie immer eingeladen mitzumachen! So z.B. am Samstag, 8.3., wenn es heißt „München ist vielsprachig!“ oder bei dem Workshop „Geniale Bauprojekte mit elektronischen Bauteilen“ am Sonntag, 9.3. Es gibt spannende Exkursionen ins Funkhaus des Bayerischen Rundfunks, zum Verlag arsEdition, in die Buchhandlung Lesetraum.de. und in die Münchner Residenz. Spontan mitmachen kann jeder bei dem offenen Werkstattprogramm von Kultur & Spielraum. Es entstehen eigene Bücher oder Bilderbücher werden als Ausgangsmaterial genutzt, um mit Stop-Motion-Technik Kurzfilme und Fotosequenzen herzustellen, die dann bei einer Filmmatinee am 16. März präsentiert werden!

Das tägliche Kindergarten- und Schulklassenprogramm wird ergänzt durch ein Halbtagsseminar „Apps & Co in Kindergarten und Grundschule“ für ErzieherInnen und GrundschullehrerInnen.

Münchner Stadtmuseum am  St.-Jakobs-Platz vom 8. bis 16. März, täglich von 9:00 bis 19:00 Uhr

Termine/Karten: www.muenchner-buecherschau-junior.de

[LiSe 02/14] Büchersammler (Folge 5)

Kunstwerke aus Papier und Pappe

Hubert Kretschmer reist um die halbe Welt auf der Suche nach Künstlerbüchern

Ein Buch ist ein Buch. Die Leserinnen und Leser der LiteraturSeiten werden da sofort zustimmen können. Doch manchmal ist ein Buch eben doch nicht nur ein Buch, sondern mehr als reines Schriftgut. Genau dieser Dimension widmet sich Hubert Kretschmer. Er sammelt Künstlerbücher, die jedes Mal ganz neu und jedes auf seine eigene Weise vom Leser gelesen werden wollen. Und er sammelt allerlei Medien, die in kleinen Auflagen das Licht der Welt erblicken: Flugblätter, Zines (Publikationen), Multiples, Plakate, Zeitschriften… In einem Archiv stellt er seine Sammlung der Öffentlichkeit zur Verfügung.

„Sieg“ heißt das Werk, das Hubert Kretschmer immer wieder gern in die Hand nimmt. Es kommt recht unprätentiös und ein wenig unfertig daher. Es besteht aus Pappe und sieht aus wie der Einband eines Buches. Doch es fehlen die Seiten. Keinesfalls aber fehlt es an einer Geschichte. Eine gemalte Faust erzählt sie, auf den vier Seiten des „Einbands“. Denn die Faust, die Christoph Mauler 1991 in fein abgestimmten Grautönen auf schwarze Pappe bannte, sieht auf jeder Seite anders aus und führt das Symbol in seiner bekannten Bedeutung ad absurdum. Die Faust ist nicht heil, der Sieg ist hinterfragt.

Die Werke, die Hubert Kretschmer in seinem Untergeschoss in der Türkenstraße sammelt, sind keine „normalen“ Bücher. Sie fordern mehr als nur Kenntnisse des Alphabets. Sie wollen verstanden werden in ihrer Gesamtheit aus Zeichen, Materialien, Farben und Formen. Wer die Voraussetzungen dieser Art von Schriftgut verstehen will, kann ein ganz normales Buch zur Hand nehmen. Es ist Kretschmers Lieblingsbuch, eine Art Manifest mit dem Titel „Second Thoughts“, das der Mexikaner Ulises Carrión 1980 herausgebracht hat. Es handele sich, sagt Kretschmer, um das wichtigste Buch über Künstlerbücher, es definiere Bücher als „eine Folge von Räumen“.

Gelesen hat Kretschmer schon als Kind gern und viel. Und immer hat er parallel auch selber kleine Heftchen gestaltet, Malbücher gebastelt, Comics gesammelt und Blätter gebündelt. Er wollte die Dinge zusammenhalten. Seine frühen Vorlieben mündeten einerseits in den Beruf des Kunstpädagogen, andererseits in diverse Aktivitäten als Verleger, Sammler und Künstler. Aus „schlechten“ Fotos macht er Bilder, die die Erwartungen des Betrachtenden unterlaufen. Mit seiner Sammlung trat er 1979 an die Öffentlichkeit, im Rahmen von drei Ausstellungen über Künstlerbücher 1979 in der Produzentengalerie in der Adelgundenstraße. Es folgte die Gründung von Verlag & Distribution Hubert Kretschmer. Der Alltag des Sammlers bestand aus Besuchen von Kunstmessen in ganz Europa und bis nach Amerika. Heute schicken ihm die Autoren von künstlerischen Druckerzeugnissen ihre Werke oft ungefragt und kistenweise zu. Die Liebe zu Reisen in Ateliers, Galerien, Buchhandlungen in den Hauptstädten der Welt ist geblieben. Schließlich gilt es, am Netzwerk zu spinnen für Künstler, die alles, was aus Papier oder Pappe ist, gestalten zu kleinen Kunstwerken, zu Werbemitteln in eigener Sache.

In den 70ern und 80ern erlebte diese Art von Publikationen eine Art Hoch-Zeit, in den 90ern entzog das Internet diesem Medium kurzzeitig die Basis, inzwischen, seit etwa 2005, gibt es ein Revival. Die jungen Leute, erzählt Kretschmer, verlangt es wieder nach Sachen, die man in die Hand nehmen kann. Das Ergebnis sind neben Künstlerbüchern Zeitschriften, Flugblätter, Zines, Multiples, Plakate und andere Medien. Kretschmer sammelt und archiviert  sie. Entstanden ist so ein Archiv aus 400 Kartons und 60 Bananenkisten, in denen die Sammelobjekte fein geordnet lagern. Das Online-Archiv  www.archive-artist-publications.eu bietet den Buchkünstlern eine internationale Plattform und dokumentiert ganz nebenbei, aber durchaus mit Absicht, den Zeitgeist und seine Entwicklung. Denn die Druckerzeugnisse stellen Werbemittel der Künstler in eigener Sache dar und spiegeln so die Kunstströmungen der vergangenen drei Jahrzehnte.
Ursula Sautmann

[LiSe 12/13] Büchersammler (Folge 4)

Nachruf: Eine Bibliothek zu Ehren der Nazi-Opfer

Georg P. Salzmann ist gestorben.
Bücher waren seine Leidenschaft – und er ist immer fündig geworden, in Antiquariaten, auf Messen, auf Flohmärkten oder in den schäbigsten Bananenkartons vor einem Trödelladen. Georg P. Salzmann hat überall Kostbarkeiten entdeckt. Gut 15 000 Bücher hat er zusammengetragen und zwei große Sammlungen aufgebaut. Deutschlandweit bekannt geworden ist seine „Bibliothek der verbrannten Bücher“ mit 12 000 Exemplaren, die im Jahr 2009 in den Besitz der Uni Augsburg übergegangen sind. Am 9. November ist Salzmann 84-jährig in Lochham bei München gestorben. Bayerns Bildungsminister Ludwig Spaenle würdigte Salzmann als eine „Ausnahmepersönlichkeit“, dessen Sammlung eine „enorme Bedeutung für Forschung, Lehre und Bildungsarbeit“ habe.

Ein einziges Buch, so verriet Salzmann noch in diesem Sommer, habe ihm bei der Sammlung der verbrannten Bücher gefehlt: die Trauerrede auf Sigmund Freud, die Stefan Zweig 1939 in London gehalten hat. „Aber die gab es nur in einer Auflage von 100 Stück, die an die Trauergäste verteilt wurde“, erinnerte sich der Sammler. Die Werke von 110 Autoren, die von den Nazis verfemt worden waren, hat Salzmann zusammengetragen, begonnen hat er 1949 mit Lion Feuchtwangers „Der jüdische Krieg“. In den systematischen Aufbau seiner „Bibliothek der verbrannten Bücher“ stürzte sich Salzmann Mitte der 70er Jahre. Dabei ist es ihm gelungen, 80 Autoren fast vollständig und lückenlos zu dokumentieren, von weiteren 30 Schriftstellern hat er zumindest die wichtigsten Werke sammeln können. Es waren Exemplare von Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Erich Kästner, Joseph Roth, Max Brod, Franz Werfel, Erich Maria Remarque, Thomas Mann, Carl Zuckmayer oder anderer Geächteter. Zur Bibliothek gehörten Kostbarkeiten wie die Erstausgabe der „Schachnovelle“ von Stefan Zweig, die in einer Auflage von 300 Stück in Buenos Aires erschienen war. Zur Intention seiner Sammelleidenschaft hatte Salzmann einmal erklärt, er habe nicht gewollt „dass die Nazis im Nachhinein Recht behalten“. Die hatten bekanntlich am 10. Mai 1933 in mehr als 60 Städten in Deutschland die Werke fast einer ganzen Generation von Dichtern und Denkern verbrannt – allein in München nahmen 50 000 Menschen an der Bücherverbrennung teil.

2009 ging die Sammlung mit 12 000 Exemplaren in den Besitz der Augsburger Universität über – in vielen Lieferwagen wurden die kostbaren Bände an den Lech transportiert. „Mein Wohnzimmer war auf einmal ganz leer“, erzählte Salzmann. Seine Regale waren aber wieder schnell gefüllt, der 1994 pensionierte Finanzkaufmann hatte eine neue Leidenschaft entdeckt: Er trug illustrierte Bücher zusammen. Zum Schluss sollten es mehr als 3000 sein. Schwerpunkt seiner neuen Sammlung waren Werke aus der Zeit von 1900 bis 1950, illustriert von Alfred Kubin, Frans Masereel, Ernst Barlach oder George Grosz. Voll Stolz zeigte Salzmann seinen Besuchern beispielsweise eine Flaubert-Erzählung auf Büttenpapier, zu der Max Slevogt die Zeichnungen geschaffen hatte – es war die Nummer 183 bei einer Auflage von 200. Drei Stunden täglich saß Salzmann noch in diesem Sommer am Computer, um über ZVAB (Zentralverzeichnis antiquarischer Bücher) nach Fundstücken zu suchen. Unglücklich nannte Salzmann nur die Tage, an denen er kein Päckchen mit antiquarischen Bänden erhielt – glücklich war er dann, wenn er in Münchner Antiquariaten nach Kostbarkeiten stöbern konnte.
Ina Kuegler

[LiSe 11/13] Büchersammler (Folge 3)

Der kleine Blick in die große Welt
Binette Schroeder hat knapp 5000 Bilderbücher zusammengetragen

Als Bilderbuchkünstlerin ist sie international bekannt, als Bilderbuchsammlerin hingegen lange nur den Insidern. Mehr als 4700 Bücher hat sie in über 40 Jahren Sammlertätigkeit zusammengetragen, heute sind sie im ihr gewidmeten Binette-Schroeder-Kabinett in der Internationalen Jugendbibliothek aufgehoben. Selbst für diese Bibliothek ist eine Sammlung, auf der Basis der Illustration etwas Besonderes.

Schon immer fühlte sich Binette Schroe-der von Bildern magisch berührt. Randolph Caldecott war einer von denen, die mit ihren Illustrationen an ihr Herz griffen. Von diesem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebenden britischen Maler und Illustrator besaß sie das Bilderbuch „The Babes in the Wood“, eine ebenso rührende wie grausame Geschichte. Sie erschütterte sie so, dass sie das Buch auf dem Speicher in der hintersten Ecke versteckte, um jedoch immer wieder hinaufzusteigen und sich beim Anschauen vom Schauer des Entzückens und Grauens gleichermaßen erfassen zu lassen. Auf dem Schoß ihres Großvaters, eines bibliophilen Büchersammlers sitzend lernte sie, sich in Bilder zu vertiefen und ihnen das abzugewinnen, was für sie auch heute noch das Bestimmende in ihrer Art des Sammelns ist: „Ist die Illustration großartig, nehme ich das Buch in meine Sammlung auf, da kann der Text noch so schwächlich sein. Ich gehe also sehr subjektiv vor, denn für mich zählt ausschließlich die Qualität der Bilder.“

Binette Schroeder ist keine systematische Sammlerin. Ihr Blick ist immer ein suchender, auf Messen, in Buchhandlungen, in Antiquariaten. Und ihre Auswahltechnik ist immer gleich. Das Titelbild muss sie anziehen. Danach geht alles in Sekundenschnelle. Hält beim Durchblättern die Faszination, ist die Entscheidung gefallen. Schwankt und überlegt sie, ist immer ein Haken dran. Ein Buch, das in diesem Zwiespalt gekauft wurde, kommt meistens nicht in die Sammlung. Es ist hauptsächlich das moderne Bilderbuch, das zeitgenössische, das ihr den Kick gibt. Angefangen hat es in Basel, wo sie die Kunstschule besuchte, mit dem Buch „C’est le bouquet – Das ist der Gipfel“ von Alain de Foll (nomen est omen). Ein verrücktes Bilderbuch in der Op- und Popart-Manier, wie sie Ende der 60er Jahre kurz auch die Kinderbücher eroberte. Es war das goldene Zeitalter, als die Illustrationen noch spannend und aufregend waren, als Binette Schroeder zum ersten Mal die Frankfurter Buchmesse besuchte, als ihr die Augen übergingen. Ihre Begeisterung kannte keine Grenzen, sie trieb sich auf den Ständen der Polen, der Tschechen, der DDR herum. „Von da kam Neues, auf der Ebene war bei denen viel los. Ich wollte sie alle haben, kaufte sie unter der Hand gegen harte D-Mark, schickte bleischwere Bücherpakete nach Hause.“

Neben dem schieren Habenwollen, das wohl jeden Sammler antreibt, steht für Binette Schroeder die nie versiegende Neugier im Vordergrund. „Es geht mir um die Entwicklung einer neuen Ästhetik, um neue Sichtweisen, Visionen, Tendenzen. Und vor allem um neue junge Talente. Ich kann mich sogar für solche begeistern, die ihre Illustrationen gegen den Strich bürsten, die sehr eigen, schräg oder sogar hässlich arbeiten – dafür lebendig und aufregend. Ganz wichtig auch der Ansatz, was rührt das Kind in mir an. Leider gibt es nur wenige highlights, die dieses wunderbare Gefühl spontan in mir entstehen lassen.“
So ist für sie das Bilderbuch der kleine Blick in die große Welt geblieben.
Katrina Behrend Lesch

Binette-Schroeder-Kabinett in der Internationalen Jugendbibliothek, Schloss Blutenburg.
Geöffnet: Mo-Fr 10-16 Uhr, Sa-So 14-17 Uhr, an Feiertagen geschlossen.
Erwachsene 1 EUR, Kinder frei.

[LiSe 10/13] Büchersammler (Folge 2)

Lesen allein ist nicht genug
Reinhard Grüner und seine wunderbaren Künstlerbücher

Die Seiten sind zerfetzt, die Buchstaben kugeln sich, Blätter und Bindfäden klammern sich an die Seiten, monströse Köpfe treten heraus, eine Schraube verschließt Buch und Deckel – das sollen Bücher zum Lesen sein? Nein, es sind Bücher zum Lesen und zum Schauen, Tasten und Er-Fühlen. Reinhard Grüner sammelt Künstlerbücher, sein Schwerpunkt ist Osteuropa. In der Internationalen Jugendbibliothek sind derzeit einige seiner Kunstwerke ausgestellt.

Künstlerbücher sind Kunstwerke in Buchform. Meist liegen sie schon ganz anders in der Hand als „normale“ Bücher. Ein Brett oder ein Holzblock sollten den Bücherliebhaber da nicht gleich aus der Fassung bringen. Wenn es Blätter gibt, muss man mit allem rechnen: mit Klecksen und Falten, Pappfiguren und Maché-Körpern, Muscheln und Sand, Montagen und Collagen, feinsten Zeichnungen und bombastischen Farborgien. Lesen ist nur eine von vielen Aktivitäten, die dem Nutzer hier offen stehen. Die Liste der verarbeiteten Materialien ist unerschöpflich. In der Internationalen Jugendbibliothek gibt es gar ein Buch aus Bleiplatten in einem Korpus aus Bergahorn, der regelmäßig zu befeuchten ist, damit das Moos in den Ritzen nicht austrocknet.

Künstlerbücher eröffnen Möglichkeiten, die man dem Buch zunächst nicht zutraut. Reinhard Grüner hat dieser Zusammenführung von Kunst und Buch, von Bild und Text, von Material und Ausdruck seine ganze Freizeit gewidmet. Frühmorgens macht er sich auf in seine Schule, die er als stellvertretender Direktor leitet, am Nachmittag wartet seine Sammlung schon auf ihn. Regale bis unter die Decke, Bücherstapel bis in die Mitte des Flurs
hinein und nur wenige Quadratmeter für Tisch und Bett – damit müssen er und seine Frau Cornelia Göbel leben. Sie wollen es so, denn Künstlerbücher sind ihre gemeinsame Leidenschaft. Cornelia Göbel hat noch aufgestockt, mit allerlei Eulen, die ihr persönliches Steckenpferd sind und den Sinn der Sammlung ihres Lebensgefährten vortrefflich ergänzen.

Reinhard Grüner ist ein Mensch, der schon immer einen Hang zum Lesen und zum Archivieren hatte. Einer Strategie beim Sammeln hat er sich nicht verschrieben, er steht nicht auf bestimmte Künstler, Richtungen, Konzepte oder Editionen. Es begann am 3. Mai 1976, Grüner studierte in England und war an die Ostküste gefahren. Da fiel ihm eine ganz eigen gestaltete „Abhandlung über das Grillen von Schweinefleisch“ in die Hand. Texte und Bilder fügten sich in einer Weise zusammen, dass „es“ Grüner packte – „es“, die Leidenschaft für das Buch als Kunstwerk. Dabei müssen die Bücher nicht schön im üblichen Sinn sein. Es geht ihm um eine Aussage, eine Botschaft, eine Geschichte. Position zu beziehen, das ist ihm wichtig. Der Text ist Mittel zum Zweck, der aus seiner Sicht ideale Zugang zur Kunst.

Die Werke junger Künstler liegen Grüner besonders am Herzen, oft wartet der Sammler geradezu auf das nächste Werk eines Künstlers, den er schätzt – und irrt sich selten. Viele Künstler kennt er persönlich, auf Messen lernt er neue kennen.

Zum Glück sind Künstlerbücher „weit weg vom Kunstmarkt“, sagt Grüner; sie wären sonst um einiges teurer. Es handelt sich also um echte Liebhaberobjekte, und Grüner würde nie auch nur ein einziges Objekt aus seiner Sammlung vermarkten. Er hängt an jedem Buch, verbindet mit jedem Werk eine Erinnerung. Seine jüngste Erwerbung handelt von „Gevatter Tod“, die Auflage beträgt 150, jedes Buch ist anders gestaltet. Der Tod ist für Grüner, neben der Liebe, ein Thema, das den Menschen begleitet, ein Leben lang. Dieses Thema ist nicht verkäuflich.

Schwerpunkte hat die Sammlung des Schwabingers inzwischen doch, sie haben sich im Laufe der Jahrzehnte entwickelt. Er nennt russische Buchkunst junger, noch lebender Künstler, er nennt die Wendezeit in der DDR, die „freche, aufregende, politische Buchkunst“ hervorgebracht habe. Zum Teil handelt es sich um Untergrundpublikationen, die eine Sehnsucht bezeugen, in der Reinhard Grüner sich wiederfinden kann. Opposition und Kreativität sind Geschwister, und in der DDR durften Bücher eben auch teuer sein, existierte nicht die Werbung als Spielfeld für gestalterische Ideen.

Grüner verweist auf Künstlerbücher aus Litauen, Korea, Frankreich, England, Ungarn, Polen, Tschechien und Mexiko in seiner Sammlung. Sie alle helfen ihm tagtäglich, zur Ruhe zu kommen. Davon will Grüner immer wieder auch seine Mitmenschen überzeugen, in Ausstellungen quer durch Deutschland. Die nächste wird in der Staatlichen Bibliothek in Regensburg stattfinden.
Ulla Sautmann

Die Ausstellung „Löweneckerchen, Gulliver und Ali Baba“ in der Schatzkammer der Internationalen Jugendbibliothek (bis 10. November) ist Mo. bis Fr. von 10 bis 16 Uhr, Sa/So von 14 bis 17 Uhr geöffnet. Am 6. und 27. Oktober finden jeweils um 15 Uhr Führungen mit Reinhard Grüner statt.