Von Tania Rupel Tera
Die Tram zeigt sich langsam von oben. Sie kriecht aus dem Berg, wie ein Wurm aus einem faulen Apfel. Witoscha, heißt dieser Apfel, schöner Name, weiblich. Aber warum ist er so dunkel, so gefroren? Ich steige ein. Zu viele Menschen für einen Sonntag, schießt es mir durch den Kopf. Wohin wollen sie denn so früh? Ich muss ins Krankenhaus, deswegen bin ich hier. Warum du, schmächtiges, zu stark geschminktes Mädchen? Und du, Opa? Ich kann nicht aufhören, innere Gespräche zu führen. Wohin willst du denn am Mittag, ungnädige Frau mit hässlicher Mütze? Ich habe es eilig, meine Mutter hat ihre erste Chemo, und du trittst mir auf den Fuß. Hallo, hör auf, das ist die schwerste Zeit meines Lebens.
– Nooch niicht! – schreit auf einmal die Frau. Sie sitzt am Rand des Sitzplatzes, ich sehe nur ihren Hut von oben. Aber es erwischt mich. Irrational, trotzdem bin ich mir sicher – sie hat es zu mir geschleudert. Also: Das ist noch nicht meine schlimmste Zeit. Schrecklich! Jetzt schon bin ich krank vor Sorgen.
– Noooch nicht! – schreit die Frau wieder. Ich habe das Gefühl, ihre Stimme geht durch die Knöpfe, durch die eigenwilligen Antennen des Huts und erreicht mich mit einer speziellen Botschaft. Ich bekomme Gänsehaut. „Das sage ich zu dir!! Du verstehst mich, ja? Noch nicht!“ Alle andere hören es auch. Jemand lacht. Ich muss mich trösten: Sie ist einfach durchgeknallt.
– Noch – nicht! Noch-nicht …
Ich sehe schon, wir haben eine neue Haltestelle erreicht, du musst noch nicht aussteigen, darum geht’s … um die blöde Haltestelle. Alles klar. Hoffentlich schlägt die Chemo an und bald geht’s meiner Mutter besser. Und sie erbricht sich nicht mehr. Und Schritt für Schritt wird alles wie früher. Sie wird gesund, mein Vater kommt zurück nach Hause …
– Nooch nicht, nooch nicht!
Kann denn niemand diese Verrückte stoppen?
– Was brüllen Sie so? Wissen Sie nicht, wo Sie aussteigen müssen? Wo wollen Sie hin? Alte Hexe – fügt meine innere Stimme hinzu.
– Nooch nicht, nooch nicht …
– Soll ich Ihnen helfen? Brauchen Sie etwas?
– Noch nicht.
– Das war zu erwarten.
Die Straßenbahn fährt weiter. Ich suche meine positiven Gedanken. Sie hat ’ne Meise. Ich werde sie ignorieren. Ich bin mir sicher, meine Mutter schafft es. Heutzutage ist diese Diagnose kein Urteil mehr. Wir werden Glück haben. Ich vermute – jetzt brüllt der dumme Hut: „Noch nicht, blabla“ … und die bizarren Antennen bewegen sich wie lebendig. Mir egal. Ich bin stark, Mutti ist stark. Das Leben wird weiter gehen. Weiter – wie diese Trambahn, vorbei an geschmückten Schaufenstern, vorbei an heiteren Menschen, an geliebten Parks und Adressen … vorbei an der Zeit. Mein Gott, hier bin ich zur Schule gegangen! Als ob hunderte von Jahren hinter mir liegen. Ich fühle mich so alt und zugleich verdammt unreif, noch ein Kind. Und doch …
– Noch nicht, noch nicht.
Ich hasse es! Diese Haltestelle ist es offenbar auch nicht.
– Nooch nicht …
Gott, ich gebe ein Versprechen, wenn Du meiner Mutter hilfst, wenn Du sie jetzt rettest, dann werde ich anfangen zu glauben. Ich werde Dich lieben. Ich verspreche es. Ich werde das Leben lieben. Ich werde an Dich glauben. An mich
– Nooch niiicht.
Wir erreichen die nächste Haltestelle. Ich habe schon Angst, die Frau fährt mit zum Krankenhaus. Ich weiß, ich gebe ihr zu viel an Bedeutung, aber ich habe mich nicht unter Kontrolle und jene tückische Stimme flüstert mir weiter zu: Vielleicht spricht durch ihren Mund das Schicksal oder der Tod selbst, ja?
Die Türen öffnen sich, viele Passagiere steigen aus, nur eine Jugendliche steigt ein. An der Haltestelle bleiben Dutzende Wartende zurück. In der letzte Sekunde schreit die Schräge:
– Jeeetzt! und hüpft zu dem Knopf für die Tür. – Jeeetzt, jeeetzt!!
Sie brüllt, drückt mehrmals, marschiert ungeduldig auf der Stelle. Dann ist sie draußen und rennt auf die entgegen kommende Straßenbahn zu. Ich sehe kurz ihren Hut in der Luft, ihren Kopf mit grauen Haaren, danach nichts mehr. Ich höre nur die hohe Töne, ein unendliches Piiieps, das mein Hirn durchdringt. Alle steigen aus. Viele kreischen, rufen Hilfe an. Ich steige nicht aus. Ich gehe bis zum Ende der Tram und versuche nicht mehr auf den Boden zu schauen.
Ich sehe wieder den Berg. Er ist weiter gerückt, dennoch sehe ich ihn klar. Seine Silhouette hat mich jahrelang begleitet. Ich habe ihn so oft in der Früh begrüßt, mit ihm im Geiste gesprochen. Er war und bleibt wie ein Verwandter für mich. Einer, der viel auf dieser Welt gesehen, viel erlebt hat. Alles passiert vor ihm, er bleibt trotzdem ruhig. Ich werde auch ruhig bleiben. Jaa, beherrsche dich, bitte! Lass dich nicht verrückt machen! Du musst weiter. Ja, ich nehme etwas Kraft von dieser dunklen Masse, von diesem wuchtigen Haufen, der mit seinem Gipfel jeden Tag ganz konzentriert die hellste Stelle des Himmels sucht. Ich will weiter. Ich muss mehr glauben, wirklich positiv sein!
Langsam rollt die Wintersonne wie eine Träne durch steile Wege. Dann klettert sie wie eine goldene Ziege nach oben und hinterlässt einen warmen Strich auf den Felsen. Und noch mal. Ein Strich zeichnet scheu in mir … Ja, ich darf nicht mehr so viel Angst haben, nicht mehr so traurig sein. Ich schaffe es. Ich kann das
… noch nicht.