Von Wolfram Hirche

Spät am Tag in der Mitte des Sommers, ein Tag im Juli, die Mücken tief im Park, keine Schwalbe am Himmel, die Taxifahrer hupen nervös, Radfahrer queren bei rot die Straßen, Mütter retten ihre Brut; eine Gewitterfront nähert sich von Westen, Schwüle in den Straßen. Das Jahr schon alt und klebrig von Erinnerungen. Man wartete ungeduldig. Die Seen auf Badeenten, auf rosa Krokodile, die aufgeblasen lagen und herunterschauten durch schwarz lackierte Balkongeländer, erwartungsvoll. Die wahre Hitze wollte nicht durchbrechen in diesem Sommer.

Der Unfall wird vom Café aus beobachtet wie ein Film. Jemand wird aus verschmiertem Auto-Polster und Blechverstauchung herausgezogen, eine Frau vermutlich, verklebt das lange Haar, auf eine Bahre gezerrt, verbunden, analgetisch versorgt, ein Wimmern, dennoch ein hohes Wimmern die ganze Zeit über, verdirbt dem Café das Geschäft, ein Tier, denke ich, das kann nur ein verwundetes Tier aushalten, diesen offenkundigen Schmerz, eine Münze fällt zu Boden. Es hört nicht auf, ein durchdringendes Wimmern von dort vorne, das Publikum nippt an Campari und Spritz mit Eis.

Die Kellnerin bückt sich geschmeidig wie ein Salamander nach der Münze, zeigt einen Streifen Haut zwischen Jeans und Shirt. Der Beruf des Architekten, sagt der Freund, habe ihm nichts als Finanzruinen hinterlassen: Nach 40 Jahren! Tatsächlich mehr als einen Streifen. Ein Stück Po fängt den Blick des Betrachters für einen Moment. Mehrere Bankkonten, alle fünfstellig im Minus, sagt er, wir gehen die Getränkekarte rauf und runter. Die Mücken sirren, der See ist nahe, keine Schwalbe am Himmel, nur die Mauersegler wieder, kurze Zeit aus Afrika zurück, hier zu Hause oder dort, pfeifen um die höheren Häuser. Das alles, wollen wir das alles verlassen, sehr bald zurücklassen, Anton, alter Freund, und für immer? Er wirkt so gebrechlich! Seine bleiche Hand zittert, wenn er das Glas hebt.

Habe mir, sagt er unvermittelt, während wir noch die verkeilten Blechteile ansehen und diese geschmeidige Kellnerin, noch was Jüngeres, sagt er, zulegen müssen, aus meinem Büro, Anja, kennst Du nicht. Wie, was Jüngeres – er, der kaum 10 Meter weit sehen kann, mir eben noch was vom Grünen Star und finalem kardiovaskulärem Desaster erzählt hat, und dieses komplizierte Gerät im Ohr trägt, um überhaupt etwas hören zu können, er sollte tatsächlich, wie soll ich sagen, hypophysisch, skrotal, testosteronal noch derart aktiv sein, hast du ein Foto von ihr? Auf dem Handy, natürlich! Aber jetzt findet er’s nicht, ist klar, es muss alles streng geheimbleiben, du verstehst sagt er, Dara würde sterben, wenn sie’s erfährt – ihr gehört doch mein halbes Büro, wir arbeiten doch eng zusammen, wir lieben uns doch, Jahrzehnte, Dara und ich! Dara kennt Anja, natürlich kennt sie Anja, sie vertraut Anja, dieser jungen Kollegin zu 200 Prozent, da passt kein Kleeblatt dazwischen, zwischen diese beiden, sie würde krank werden, alles hinwerfen, das ginge nicht, um Gottes Willen, du willst es doch nicht meiner Frau, Dara, erzählen, Will, du verstehst doch, das geht nicht!

Wieder das Wimmern von der Bahre. Wenn sie nur die Bahre endlich wegschaffen könnten! Wie von einem alten, schwer verletzten großen Tier, es hört nicht auf! Die Mauersegler, sage ich, bleiben nicht lange. Schau, sie machen ganz kurz einen Riesenwirbel, einige Wochen nur spielen sie hier Sommer und verlassen uns schon Anfang August wieder. Aber wieso bleiben sie denn nicht bei uns, Will, jammert der Freund ganz plötzlich, wieso fliehen sie denn schon nach 10 oder 12 Wochen wieder nach Afrika und sterben unterwegs und verhungern oder versinken entkräftet im Meer, Will , wieso können wir das nicht ändern! Warum lieben sie uns nicht, sie müssen länger bleiben, Will, viel viel länger! Er wirkt völlig erschüttert mit einem Mal. Wir müssen das verhindern Will! Du, Du musst es verhindern! Mein alter Freund schreit jetzt fast, aber das macht nichts, es stört niemanden, weil der unglaubliche Lärm der Autos, das aufbrausende Geschrei der Menschen im Café und um uns herum, ohnehin die Ohren betäubt.

Wir zahlen die Drinks, und als eine 2 -Euromünze unter den Tisch rollt, bückt sich die Kellnerin erneut, genau wie vorhin, salamanderhaft –

Er beugt sich schnell zu mir herüber, ganz nahe an mein rechtes Ohr, ich bin jetzt drei Tage mit ihr in den Bergen, schreit er, Defreggental, schreit er, kennst du sicher. Eine kleine Pension in Huben, mit Anja, nur dass du mich jetzt nicht zu Hause anrufst, sagt er, bei Dara, Festnetz nicht bei mir anrufen, verstehst du, sagt er. Jaja, schon gut, sage ich. Nicht gut, sagt er, ich bin mit dir in den Bergen, es ist scheiße, wenn du mich anrufst, hast du das endlich?

Und ich denke eben noch etwas über die Mauersegler nach, ihren seltsamen Instinkt, der sie so früh wieder von uns entfernt, was uns so traurig macht, was wir unbedingt verhindern müssen, und das Wimmern hat jetzt aufgehört, die Bahre ist verschwunden, was hat er gesagt mit dem Anrufen, er ist plötzlich aufgestanden und gegangen, ohne sich umzudrehen, er sieht doch kaum noch, hat nur noch eine Niere und geht jetzt wahrscheinlich zu dieser Anja. Ich glaube, dass ich ihn morgen anrufen muss, wir müssen das mit den Mauerseglern klären.