Kunstgeschichte, Krimi und Kriegskulisse – das bietet das neue Buch von Christoph Poschenrieder. „Das Sandkorn“ ist der dritte Roman des in München lebenden Autors: Ein Kunsthistoriker auf den Spuren von Friedrich dem Staufer gerät zu Beginn des Ersten Weltkriegs in die Fänge der Berliner Kriminalpolizei. Die Spur hat das Opfer selbst gelegt: Es sind Sandkörner.
Jacob Tolmeyn, der Haupt-Protagonist des 400 Seiten starken Romans, und sein Mitarbeiter Beat Imboden sind Kunstfiguren. Sie haben freilich reale Vorbilder: Es sind die beiden Kunsthistoriker Arthur Haseloff und Martin Wackernagel, die zwischen 1904 und 1908 durch Süditalien reisten, um die Bauten aus der Zeit Friedrich II. (1194 bis 1250) zu dokumentieren. Ihr Auftraggeber war kein Geringerer als Kaiser Wilhelm II. Christoph Poschenrieder hat den wissenschaftlichen Haseloff-Nachlass in Kiel studiert und darin unter anderem 3500 Fotografien der beiden Kunsthistoriker entdeckt. Eine weitere Poschenrieder-Quelle sind die Lebenserinnerungen des Berliner Kriminalkommissars Hans von Tresckow, der bis zum Ersten Weltkrieg das Erpresserdezernat im Berliner Polizeipräsidium leitete.
Opfer einer Erpressung wird gleich zu Beginn des Romans der junge Kunsthistoriker Tolmeyn: Er ist homosexuell. Was das vor gut 100 Jahren in Berlin bedeutete, macht Poschenrieder an der Eulenberg-Affäre deutlich. In diese Affäre, einer der größten Skandale des deutschen Kaiserreichs, waren prominente Mitglieder des Kabinetts von Wilhelm II. verwickelt.

Tolmeyn flieht aus dem schwulenfeindlichen Berlin in das Preußisch Historische Institut nach Rom. Dessen Leiter schickt den jungen Wissenschaftler – zusammen mit dem Assistenten Imboden – auf Spurensuche nach Süditalien. Bevor die beiden nach Apulien aufbrechen, macht Tolmeyn noch eine „überbelichtete“ Blitz-Ausbildung zum Fotografen in Berlin – eines von vielen Kabinettstücken in dem Roman „Das Sandkorn“. Insgesamt drei Reisen führen die beiden Kunsthistoriker in den Süden, wobei sie bei der dritten von einer Frauenrechtlerin begleitet werden – eine seltsame (vielleicht allzu konstruierte) Konstellation, bei der es trotz aller wissenschaftlichen Akribie natürlich „menschelt“.
Leitmotiv des Romans ist der (Treib)Sand, den Tolmeyn auf all diesen Reisen, aber auch bei seiner Rückkehr in  Berlin und danach begleiten soll: So sammelt der Wissenschaftler von allen kunsthistorisch wichtigen Stätten Süditaliens Sand ein und verstaut ihn in kleinen Stoffsäckchen, um später Nachweise über (Bildhauer-)Werkstätten zu erbringen. Dieser Sand wird dem Kunsthistoriker zum Verhängnis: Nach dem kriegsbedingten Abbruch der Expedition streut er die Körner auf Berliner Straßen – schließlich soll das, so hat es ihm eine süditalienische Hexe prophezeit, das Böse abhalten. Genau das Gegenteil tritt ein: Die Polizei nimmt Tolmeyn fest. Der Leiter des Erpresserdezernats wittert eine Spur und erpresst nun seinerseits den in Berlin gestrandeten Wissenschaftler … das geniale Ende des Romans sei hier nicht verraten.

Christoph Poschenrieder (50) ist eine wunderbare Mixtur gelungen: differenzierte Roman-Figuren, eine gute Dosis Zeitgeschichte, spannende kunsthistorische Exkurse, animierende Reiseberichte, eine packende Handlung – und das alles stilistisch elegant, leicht und lehrreich, voll Humor und Finesse. Empfehlenswert zu lesen – und das nicht nur am Sandstrand!

Christoph Poschenrieder:
Das Sandkorn
München 2014, 400 Seiten
Diogenes 22,90 €