Von Simon Muff
Eine Art Niedergeschlagenheit umfängt mich, als ich das dreistöckige, verwinkelte Gebäude betrete. Im Innern ist es beinahe heißer als draußen, dazu stickiger.
Der Geruch von vertrocknetem Essen hängt in der Eingangshalle, vermischt mit Desinfektionsmittel, allenthalben Flecken auf dem Fliesenboden. Flugs gehe ich zum Fahrrad zurück, habe vergessen es abzuschließen. Beim zweiten Mal begrüßt mich der am Eingang sitzende Mann erneut, ohne sich an mich zu erinnern, stellt dieselben Fragen. Er ist Mitte vierzig, aber komplett ergraut, verzogene Gesichtszüge, fahrige Bewegungen, sieht nach Hirnschlag aus. Ich trete durch die Schiebetür.
Ein Vogelkäfig steht in einem hohen Wintergarten, verdeckt von Palmen. Die Papageien sehen zerzaust aus, ihre leeren Augen streifen mich. Die Bänke um die Voliere herum sind unbesetzt, ein Brunnen plätschert in flackerndem Licht. Goldfische schwimmen träge umher, einer hat einen unnatürlich geschwollenen Bauch. Ich biege ab und drücke auf den Halteknopf des Fahrstuhls.
Die Wartezeit ist lang, mehrmals spricht jemand mich an, der zweite Aufzug sei defekt, hier müsse man Geduld haben, aber sie selbst verfügten ja über ausreichend Zeit. Dann schlurfen die Auskunftsbedürftigen weiter.
Die Schiebetür öffnet sich, der Fahrstuhl voll besetzt. Es bildet sich ein Stau beim Aussteigen: Zwei Rollatoren haben sich verheddert, blockieren den Ausgang, viele Stimmen durcheinander, Gezeter, endlich löst sich die Ansammlung auf. Navi und Abstandswarner, das wär’s, wird der Kapitalismus noch als Absatzquelle erschließen, bin mir sicher.
Komme oben an, Licht flutet den Flur. Das Pflegepersonal trägt Rot über weißen Hosen. Alle sind zuvorkommend. Eine attraktive Schwester liest die Medikamentenliste vor, sie lächelt mir zu, als sie die Tür hinter sich schließt.
Der Raum scheint unverändert, dunkel trotz etwas Neonlicht, Vorhänge versuchen vergeblich, die Hitze auszusperren. Der zerbrechliche Körper ist im Bett kaum zu erkennen. Runzelige Haut, ein Auge zugeschwollen, die Knochen treten hervor. Das intakte Auge geschlossen, er schläft.
Die Infusionsflasche tropft vor sich hin, die Haut schimmert gelblich, die Lippen aufgesprungen. Ich setze mich und verharre. Es ist warm, der Inhalt des Urinbeutels verdampft, ich atme flacher.
Wie fühlt es sich an, auf zwanzig Quadratmeter zurückgezogen, ein Fernseher als letztes Hab und Gut? Aufs Sterben warten? Was bringt der Tag? Schmerzen? Was wollt ich dich sonst noch fragen? Hast deinen Job gut gemacht: Wenn ich dich brauchte, warst du nicht da, hast mir aber auch nicht reingepfuscht. Als ich als Kind nachts schrie, kamst du. Mit Geld hast du alles geregelt. Ziemlich verfahren jetzt …
Ich ertappe mich, wie ich seine Hand streichle. Sie fühlt sich rau und weich zugleich an. Ich wollte dir noch sagen, wie dankbar ich bin. Aber das Totschweigen aller Probleme, aller Unzugänglichkeiten, die Besserwisserei verhinderte … na, du weißt schon.
Machtlos sitze ich vor dem Wrack deines Körpers, halte die Luft an, um dein Röcheln zu hören. Wie wird es wohl sein, wenn du eintrittst in die Säulen aus Licht?
Ich muss eingeschlafen sein, die Sonne steht tiefer. Das einzelne, grüne Auge blickt mich an. Lautlos formen deine Lippen meinen Namen, ich lächle. Du schläfst wieder ein. Der Tropf rinnt gleich einer Sanduhr. Ich gehe.
Der Weg nach Hause dehnt sich, Sonnenuntergang, Dunkelheit. Ich trete in die Pedale, schwitze. Den Kopf gebeugt blicke ich auf den vorbeieilenden Asphalt, da bemerke ich die fehlenden Teile: Welcher Idiot hat mir die Bremsbacken geklaut? Ein Lichtkegel erfasst mich, ich bremse, mehr Licht.
Sie werden es verkehrsuntüchtig nennen.