Marian Offman schreibt ein lesenswertes Buch, das mit einer Antwort auf diese Frage noch wartet.

Von Katrin Diehl

Autofiktionale Texte treiben mit uns ein unruhiges Spiel. Immer doch ein wenig voyeuristisch, verlässt uns beim Lesen die Frage kaum, was da jetzt „stimmt“ und was nicht. Autofiktionales Schreiben ist gerade ziemlich angesagt, obwohl – und das erklären uns Autor*innen schon lange – eigentlich jeder Text seine fiktionale wie autobiografische Komponente hat. Mal mehr vom einen, mal mehr vom anderen. In Marian Offmans „Mandelbaum“-Buch dominiert eindeutig das Autobiografische als Inhaltsgeber. Und das ist ziemlich aufregend, auch weil es diesen oder jenen aus der Münchner Gesellschaft, erkennt der sich wieder, ziemlich aufregen könnte. Bei Marian Offman haben wir es nämlich mit einer in Sachen Lokalpolitik ziemlich rührigen Person zu tun, die jetzt also ein Buch vorlegt, auch weil sie – gerade ohne Stadtratssitz – ein bisschen mehr Zeit hat. Offman, 1948 hier in München geboren, war über 30 Jahre im Vorstand der hiesigen jüdischen Gemeinde, saß fast zwanzig Jahre, seit 2002, für die CSU (die das beizeiten ziemlich stresste) im Stadtrat, trat ohne jede Furcht Neonazis entgegen, engagierte sich gegen Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit …, setzte sich kompromisslos für Flüchtlinge ein. Seit zwei Jahren ist Offman in der SPD und heute als Integrationsbeauftragter für die Stadt tätig.

In Offmans Buch steht Felix Mandelbaum, der Ich-Erzähler, im Mittelpunkt, ein Münchner Lokalpolitiker, jüdischer Stadtrat, der eine Nacht in einer Zelle in der Ettstraße verbringen muss, weil es sein könnte, dass er am Odeonsplatz bei einer Kundgebung von Rassisten und Antisemiten als Teilnehmer der Gegendemonstration mit seiner Kamera einen stadtbekannten Neonazi am Kopf getroffen hat, und jetzt liegt der im Koma.  Mandelbaum steht eine zermürbende, lange Nacht bevor. Der Minutenzeiger gibt den Takt der Rahmenhandlung vor. Kurze Einschübe, Erläuterungen leiten hin zu den Erinnerungen, in die Mandelbaum versinkt und die die zweite, ausholende Ebene des Romans ausmacht. Wir kehren in Mandelbaums Kindheit zurück, seine Jugend, lernen seine Eltern kennen, den eigenen politischen Werdegang, Stadtereignisse, die ihn in Anspruch nehmen und formen (das Oktoberfest-Attentat, die Wehrmachtsausstellung, der Bau der Synagoge am Jakobsplatz, auch des NS-Dokuzentrums…). In jeder Lebensphase, während der unterschiedlichsten Herausforderungen wird die dunkle Wolke des Holocausts, die über Felix Mandelbaums Leben steht, nicht weichen. Sie ist und bleibt da bei jüdischen Menschen, die aus diesem oder jenem Grund in Deutschland (oder anderswo) hängen geblieben sind. Mal steht sie höher, mal tiefer und die Mehrheitsgesellschaft, die zeitgleich lebt, mit ihnen dieselben Orte und Ereignisse teilt, nimmt das kaum wahr. Das macht den Wert dieses Buches aus: dass es in unprätentiöser Sprache den Blick, den es eben auch gibt und der geprägt ist durch schreckliche Erfahrungen, der Eltern, Großeltern…, beschreibt wie demonstriert und damit nach Empathie sucht und auf Verstehen zu hoffen wagt.  Das Deutschland „ohne historisches Bewusstsein“, in dem Offman / Mandelbaum aufgewachsen sind, mag sich auf institutioneller Ebene verändert haben…, inwieweit das die Bereitschaft, sich berühren zu lassen, tangiert, lässt sich schwer sagen.

Was das mit dieser dunklen Wolke, den vielen Tränen, dem großen Schweigen auf sich hat, erfährt der junge Felix, der viele seiner Familienmitglieder in den Konzentrationslagern verloren hat, nicht von seinen Eltern, sondern von einem Buben aus seiner Klasse.  Der hält ein Referat über den „Holocaust“, spricht „eine halbe Stunde über die Konzeption von Auschwitz … und über die Zahl der Getöteten, (…) doziert über Auschwitz wie über eine Physikaufgabe.“

Marian Offman:
Mandelbaum
Roman, 320 Seiten
Volk Verlag, München 2022
320 S., 25 €