Der Arzt und Dichter Hans Carossa erlebt ein München im Ausnahmezustand.
Von Markus Czeslik
In der Theresienstraße 46, dort, wo heute legendäres Eis verkauft wird, in Sichtweite der Pinakotheken, erinnert eine Gedenktafel an den Arzt und Dichter Hans Carossa. München ist nur eine von vielen Stationen in Bayern, an denen sich Carossa aufhält, doch hier ist der Einfluss am größten, den die literarischen Zirkel auf sein Schreiben haben.
Carossa gehört zu jenen anerkannten Kulturschaffenden, die für die Nazi-Ideologie instrumentalisiert wurden. In seinem selbstkritischen Buch „Ungleiche Welten“ setzt er sich mit seiner Haltung während des als „schicksalshaft“ bezeichneten Nazi-Regimes auseinander – sowie den Handlungen oder auch ausbleibenden Handlungen, die aus dieser Haltung resultierten.
Im Gegensatz zu vielen Künstlern, die damals aus Deutschland flohen, entschloss sich Carossa, in der Heimat zu bleiben, auch wenn sich diese immer mehr dem Wahnsinn zuwandte. Die innere Emigration war sein Versuch, sich aus der Kriegstreiberei möglichst weitgehend herauszuhalten und dagegen im Stillen zu wirken.
Doch der Reihe nach. Carossa, 1878 in Bad Tölz geboren, kommt zum Studium nach München. Die Stadt ist für ihn so etwas wie ein Sehnsuchtsort, auch weil seine Mutter aus München stammt. Diese, so schreibt er, hat ihm als Kind „die Empfindung eingegeben, als wohnten dort nur Glückliche und Gescheite, denen das Allerschwerste leicht gelang.“
Er will Mediziner werden, fühlt sich aber auch unter den Literaten der Münchner Bohème schnell heimisch. Im „Café Stefanie“ verkehrt er häufig, nicht ahnend, dass er viele Jahre später nach dem Krieg hierhin zurückkehren und nur noch einen Trümmerhaufen vorfinden sollte.
Carossa verlässt zunächst wieder München und übernimmt nach dem Studium die Arzt-Praxis seines Vaters in Passau. Er startet ein erfolgreiches „Doppelleben“: 1910 bringt der Insel Verlag seine Gesammelten Gedichte heraus. Als Arzt wird er jedoch nur allzu schnell an anderer Stelle gebraucht, an der Front im Ersten Weltkrieg, wo er später selbst eine schwere Verwundung erleidet.
Nach Kriegsende beginnt seine eigentliche Münchner Dekade, die auch wieder von produktivem literarischem Schaffen geprägt ist. Im „Rumänischen Tagebuch“ verarbeitet er die Erfahrungen eines verhängnisvollen Krieges, den er an sich jedoch nicht infrage stellt. Kurz zuvor veröffentlicht er seine erste Autobiografie, der noch weitere Bände folgen sollen. 1928 erhält er den Dichterpreis der Stadt München, drei Jahre später den Gottfried-Keller-Peis. Mittlerweile hat Carossa seine Praxis aufgegeben. Der Arzt rückt nun als Hauptfigur in einige seiner Romanveröffentlichungen.
Die Periode zwischen den Kriegen, eine Zeit des Aufbruchs, hält nicht lange an. Die Nationalsozialisten drängen an die Macht, und Carossa wird auserkoren, den Vorsitz des Europäischen Schriftstellerverbandes zu übernehmen. Carossa will diese Bühne um jeden Preis meiden und bricht nach Italien auf – die Reise erspart es ihm, auch im Jahr darauf, die Versammlung des Verbandes zu leiten. Carossa wird zu einer Art Präsident a. D.
Unter der Nazi-Herrschaft gelingt es ihm, sich für Freunde und Bekannte einzusetzen, die in Bedrängnis geraten. All das hat jedoch nicht zur Folge, dass sich die Nazis von ihm abwenden. Im Gegenteil. 1944 erscheint die „Gottbegnadeten-Liste“ von Joseph Goebbels. Auch der Name Carossa steht auf dieser Liste.
Was München angeht, muss er sich im Rückblick eingestehen, dass er die Stadt und die damalige Epoche falsch eingeschätzt hatte: „Jenes vorurteilslose, weitherzige München, das so viele Begabungen sprießen und blühen ließ, war mir immer als ein Anfang erschienen, als das erste Stadium eines geistbestimmten Zeitalters, und es dauerte lange, bis mir begreiflich wurde, dass diese Epoche freier Entfaltung nur ein Ausnahmezustand gewesen war, der nie wiederkehren sollte.“
Es bleibt am Ende das Bild eines ebenso erfolgreichen, mehrfach ausgezeichneten Schriftstellers wie auch gewissenhaften Mediziners sowie eines Mitläufers, der sich immer wieder von der NSDAP vereinnahmen ließ.
Nach dem Krieg sammelt Carossa weitere Auszeichnungen, darunter 1953 das Große Bundesverdienstkreuz. Drei Jahre später stirbt er in Rittsteig bei Passau.
Bisher in der Reihe erschienen: Gedenktafel für Franziska zu Reventlow an der Leopoldstraße 41, für B. Traven an der Clemensstraße 84, für Gottfried Keller an der Neuhauser Straße 35, für Annette Kolb in der Händelstraße 1, für Schalom Ben-Chorin an der Zweibrückenstraße 8, für Carla-Maria Heim am Johannisplatz 10, für Heinrich Heine in der Hackenstraße 7, für Jella Lepman am Eingang zum Schloss Blutenburg, für Ruth Schaumann in der Kaulbachstraße 62a und für Eduard von Keyserling in der Ainmillerstraße
Mehr über Gedenktafeln finden Sie hier:
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