Wie immer zur Weihnachtszeit empfehlen Redaktionsmitglieder der LiteraturSeiten München ihre Lieblingsbücher des Jahres.

Fischerteppiche
Von Michael Berwanger

Eine fast vergessene Geschichte aus der Geschichte: Wegen eines mehrjährigen Fangverbots, das 1928 an der Ostsee in Kraft tritt, wird den Pommerschen Fischern das Teppichknüpfen beigebracht, damit sie sich ihre Existenzgrundlage sichern können. Ein österreichischer Tapisserist lehrt die Fischer, die geschickt sind im Netze Knüpfen, die wichtigsten persischen Teppichknoten.
Auf dem Schreibtisch der Museumskuratorin Mia Sand landet ein „Perser von der Ostsee“ unklarer Herkunft. Im Saum des Teppichs irrlichtern Hunderte von Grüntönen, die Koggen, Fische und Schrifttypen formen. Ergriffen von der Schönheit und der Mystik des Teppichs begibt sich die Kuratorin auf eine Recherchereise, um den Ursprung des seltenen Stücks zu klären. Die Reise führt sie von der Ostsee nach Kroatien und über den skandinavischen Norden zurück an ihren Ausgangspunkt. Neben einem warmherzigen Teppichhändler findet Mia auch noch die Wahrheit über die österreichischen Tapisseristen, deren Engagement in Pommern und die Vertreibung durch die Nazis.

Karin Kalisa:
Fischers Frau
Roman, 256 Seiten
Droemer, München 2022
ISBN 978-3-426-28209-0
22 Euro

Aufbrechen
Von Stefanie Bürgers

„Ich war nicht traurig als mein Bruder starb“, mit diesem Paukenschlag zieht uns die Autorin unvermittelt in die harte Lebenswirklichkeit der dreizehnjährigen Tambudzai, die im ländlichen Rhodesien der 1970er Jahre in den streng patriarchalen Strukturen einer Großfamilie aufwächst. Zielstrebig ergreift sie die Chance auf Bildung. Dies ist nur möglich, weil der dafür vorgesehene männliche Nachkomme, der ältere Bruder, stirbt und der akademisch gebildete Onkel und Mäzen der Großfamilie diese unkonventionelle Entscheidung trifft. Aber der Weg Tambudzais ist nicht einfach. Er offenbart mehr und mehr die Widersprüche zwischen ihrem alten und neuen Leben. Gleichberechtigung scheitert an weißer Dominanz. Die eigenen Wurzeln, die Verbindung zur Familie und deren Lebensweise, verkümmern. Als erster Teil einer Trilogie ist „Aufbrechen“ ein Klassiker der afrikanischen Literatur und bereits 1988 in englischer Sprache und 1991 in deutscher Sprache unter dem Titel „Der Preis der Freiheit“ erschienen. Ilija Trojanow hat nun den Band neu übersetzt.

Tsitsi Dangarembga:
Aufbrechen
Roman, 272 Seiten
Aus dem Englischen von Ilija Trojanow
Fischer TB, Frankfurt 2022
ISBN 978-3-596-70821-5
14 Euro

„Er sah mich nie tanzen“
Von Katrin Diehl

Der Titel ist es sicher nicht – „Eine Feder auf dem Atem Gottes“ – und das Cover eher auch nicht – viel Rosa, eine kleine Porzellanfigur … –, die unbedingt zugreifen lassen. Es ist der Name: Sigrid Nunez, eine amerikanische Autorin, deren im besten Sinne eigenartigem Schreiben man verfallen kann. In Amerika ist Nunez ohnehin schon lange angesagt. „Was fehlt dir“, das hier vergangenes Jahr herausgekommen ist, wiederholte, was Nunez immer macht: Sie gibt dem subjektiven Blick größten Raum mit dem Ziel, dem rätselhaften Gegenüber so nahe wie möglich zu kommen. Da ist also größter Wille zur Empathie, auch wenn dem immer wieder Grenzen gesetzt werden. „Eine Feder auf dem Atem Gottes“ ist Nunez Debütroman aus dem Jahr 1995. Und es ist ein Glück, dass er für deutsche Leser*innen zu entdecken ist. Der Text ist genreübergreifend und am Ende doch eine kleine feine Autobiografie über das Aufwachsen Sigrid Nunez’ im New York City der 60er Jahre. Mutter: eine alles einnehmende Deutsche, Vater: chinesisch, sprachlos, verloren. Dazwischen Sigrid, die ihren Weg sucht und Jahre später darüber in rührender Weise schreiben kann.

Sigrid Nunez:
Eine Feder auf dem Atem Gottes
Roman, 222 Seiten
Aufbau Verlag, Berlin 2022
ISBN 978-3-351-03876-2
22 Euro

Kinderwunsch und Frauenelend
Von Ursula Sautmann

Als die Sowjetunion zerfiel, gab es kein Sozialsystem in der Ukraine. Frauen wurden in die Fruchtbarkeitsindustrie getrieben, Männer machten Geschäfte mit den Kohlebergwerken im Donbass. Sofi Oksanen, Autorin aus Finnland, beschreibt in ihrem Buch „Hundepark“, wie Frauen in der Ukraine Eizellen spenden und Kinder austragen für die Reichen der Welt und dabei manchmal sogar ihr Leben lassen müssen. Ein zweiter Erzählstrang führt in den Donbass, wo die ehemals staatlichen ebenso wie die illegal ausgehobenen Kohlegruben verscherbelt werden. Oksanen ermöglicht damit einen kleinen Einblick in die Entstehungsgeschichte der Oligarchie. Man kann das Buch als Thriller lesen, doch „Hundepark“ wirft ein Licht auf Menschen und Verhältnisse in der Ukraine, die im Bombenhagel Russlands kaum mit Aufmerksamkeit rechnen dürfen. Da haben es die Hunde im Hundepark in Finnland besser.

Sofi Oksanen:
Hundepark
Aus dem Finnischen von Angela Plöger
Roman, 480 Seiten
KiWi, Berlin 2022
ISBN 978-3-462-00011-5
23 Euro

 

Heimat verlassen
Von Marie Türcke

Gute Gedichte sind die Essenz von Gefühlen, Abdrücke anderer Leute Empfindungen und Gedanken, so präzise und kurz, dass man sie wie ein Echo in sich selbst nachspürt. Wenige zeitgenössische Poet*innen schreiben so intensiv, so unter-die-Haut-gehend und so brutal real wie Warsan Shire. Die somalisch-britische Autorin schreibt Gedichte darüber, wie es ist eine Frau, genauer, eine schwarze Frau zu sein, und darüber wie es ist, die Heimat verlassen und eine neue finden zu müssen. „No one would leave home unless home chased you“, schreibt sie in ihrem 2022 bei Chatto & Windus London erschienenen Buch „Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head“. Auf Deutsch ist das Buch mit dem Titel „Haus Feuer Körper“ als zweisprachige Ausgabe erschienen. Beyoncé hat schon einige Gedichte der jungen Lyrikerin vertont.

Warsan Shire:
Haus Feuer Körper
Aus dem Englischen von Muna AnNisa Aikins,
Mirjam Nuenning und Hans Jürgen Balmes
Gedichte, 160 Seiten
S. Fischer, Frankfurt 2022
ISBN 978-3-10-397106-4
24 Euro

Lyrik und Jazz
Von Franz Westner

„Wundebar“ ist eine vielschichtige und abwechslungsreiche Performance aus Lyrik und Jazz. In 19 Stücken vereinen die Musiker Chris Gall (Piano), Alex Haas (Kontrabass), Wolfgang Peyerl (Schlagzeug) Melodie, Komposition und Rhythmus mit den lyrischen Texten und der Stimme der Autorin Tania Rupel Tera. Die Texte handeln von den Stimmungen, Ängsten und Hoffnungen der Protagonisten, von Liebe und Alltag und dessen Bewältigung. Spielerisch leichte Stücke (Gustav) wechseln sich mit rhythmisch stampfenden (Schlafgedicht, Rock mich) oder Chorstimmen (Hass) ab. Wunderbar das letzte Stück, in dem die Autorin und ihre Musiker den Zuhörer in eine „Wundebar“ einladen. Die Werke sind Momentaufnahmen, die manchmal zart und poetisch, manchmal kraftvoll und experimentell daherkommen. Worte/Stimme und die Instrumente der Musiker finden immer wieder zu einer Symbiose zusammen, geben sich aber gleichzeitig Raum für Improvisation.

Tania Rupel Tera (Text):
Wundebar
Hörbuch
SALON LiteraturVERLAG,
München 2022
ISBN 978-3-947404-18.6
15,99 Euro