Die von der Münchner Monacensia für November und Dezember 2020 initiierte Blogparade #femaleheritage zum Auftakt des mehrjährigen Forschungsprojekts Frauen und Erinnerungskultur ruft zur digitalen Spurensuche nach prägenden und mutigen, doch vergessenen weiblichen Persönlichkeiten aus der Kunst und Literatur, aber auch aus Wissenschaft, Sport und anderen Bereichen des öffentlichen Lebens auf.

Die Redaktion der “LiteraturSeiten” München beteiligt sich an der Blogaktion mit einem Beitrag über sieben Schriftstellerinnen-Biografien aus den literarischen Archiven Münchens.

Die im Februar 2019 begonnene und innerhalb von fast zwei Jahren auf inzwischen 19 Beiträge angewachsene thematische Reihe „Literarische Archive“ der „LiteraturSeiten München“ ist dem schriftlichen kulturellen Erbe, insbesondere schriftstellerischen Nachlässen gewidmet. Die (mehrheitlich weibliche) Redaktion der „LiteraturSeiten“ machte sich fast jeden Monat auf die Suche in den Archiven der Monacensia, der Bayerischen Staatsbibliothek, der Internationalen Jugendbibliothek (IJB) oder des Stadtarchivs München und nahm Kontakt zu zahlreichen Einzelpersonen, Vereinen, Stiftungen oder literarische Gedenkstätten auf, um “in einer neuen Serie literarische Nachlässe (vorzustellen), die in enger Verbindung mit München und Bayern stehen“.

Es sind dann – als habe dies der Eröffnungsbeitrag zur Serie von Christine Erfurth schon in seinem Titel Dichternachlässe vorweggenommen – mit einem Zwischenergebnis von 12 : 7 mehrheitlich die Vor- und Nachlässe von Autoren geworden, die wir bisher den Leser*innen präsentiert haben. Eine Schräglage zuungusten von Frauen zeichnet sich, so sei in der Aufzählung hinzugefügt, auch bei anderen festen Rubriken des Monatsblatts „LiteraturSeiten München“ ab: Bei Rezensionen, Buchbesprechungen und Lektüretipps in den vergangenen zwei Jahren stehen 53 Autoren 44 Schriftstellerinnen gegenüber. Bei veröffentlichten literarischen Texten sind es in der Rubrik „Lyrische Kostproben“ 16 Dichter und 9 Dichterinnen, bei Kurzgeschichten 12 Autoren und 3 Autorinnen.

Die sieben Beiträge aus der Serie „Literarische Archive“ zu Schriftstellerinnen mit einem Bezug zu München, die wir für die Blogparade #femaleheritage neu, und zwar chronologisch nach den Lebensdaten der Autorinnen geordnet haben, erzählen von sieben verschiedenen Facetten oder Schritten der literarischen weiblichen Emanzipation. Und es sind keineswegs sieben Zwergenschritte – lesen Sie nach!

Eine Dame von Welt

Mechtilde Lichnowsky (Foto: Wikimedia CC)Katrin Diehl stellt mit der aus einer adeligen Familie stammenden und weitgereisten Mechtilde Lichnowsky (1879-1958) anhand des Briefnachlasses in der Monacensia eine Autorin vor, die ihre privilegierte Stellung zur Vernetzung mit den progressiven literarischen Stimmen ihrer Gegenwart nutzte und in ihrem Werk u.a. auch den Missbrauch der Sprache als Herrschaftsinstrument zu politischen Zwecken anprangerte:

„Lichnowskys Biografie verdient eine differenzierte, kleingliedrige Darstellung, denn sie ist schwer zu fassen mit ihren überraschenden Wendungen, mit den Freiräumen, die sich die Dame, übrigens auch als Frauenrechtlerin unterwegs, sehr bewusst geschaffen hat. Sie füllte sie mit Zeichnungen, Kompositionen, vor allem aber mit literarischen Arbeiten – an die 20 Bücher, unzählige feuilletonistische Texte –, Entrée-Billets zu Literatenkreisen und in die Bohème. (…). Wo sich Mechtilde Lichnowsky niederlässt, nimmt sie Verbindung auf mit Künstlern, verarbeitet ihre Eindrücke literarisch. Erwähnenswert „Der Stimmer“ von 1917 – eine kunstvoll komponierte Liebesnovelle –, „Kampf mit dem Fachmann“ von 1924 – eine Satire über die Trägheit des Denkens – und „Worte und Wörter“ von 1939, ein sprachanalytischer Text, in dem Lichnowsky u. a. Hitlers Äußerungen unter die Lupe genommen hat, mit ihnen scharf ins Gericht gegangen ist. Erschienen ist der Titel erst 1949.“

Herrlich frei, aber völlig ungesichert

Oda Schaefer Foto: Jutta Selle. Quelle: Münchner Stadtbibliothek/Monacensia P/a 485-25

Oda Schaefer: nachdenklich. Foto: Jutta Selle (1949). Quelle: Münchner Stadtbibliothek/Monacensia P/a 485-25.

Ursula Sautmann sichtet wiederum in der Monacensia die Manuskripte und Briefe aus dem Nachlass von Oda Schaefer (1900-1988) und gibt Einblicke in die Werkbiografie einer Autorin, deren Schreiben stark von den äußeren Zwängen geprägt war – den emotionalen Zwängen ihrer Ehe, dem ökonomischen und finanziellen Druck einer freischaffenden Schriftstellerin-Existenz, den politischen Doktrinen des NS-Regimes und schließlich der eigenen wertekonservativen Gesinnung. Diese ließ sie – rückwärtsgewandt – von Frauensalons des 18. Jahrhunderts träumen, anstatt die neue Generation von Frauen zu fördern:

„Die Autorin war nach 1945 erfolgreich, erhielt zahlreiche Preise. Die „Kahlschlagliteratur“ der Gruppe 47 lehnte sie entschieden ab, partizipierte indessen, gestützt auf Wortgewandtheit und Recherchefleiß, am katholischen Konservatismus der Nachkriegszeit. Im Januar 1962 schrieb sie an ihre Freundin Hertha Bielfeld: „Zwischen uns herrscht doch das gleiche Niveau der Herkunft, ein gewisser kapriziöser Stil, der meines Erachtens seit dem 18. Jahrhundert vor allem beim Adel im Schwange war.“ Zeitlebens blieb ihr Traum der Salon geistvoller Damen; Frauen mögen regieren, aber unsichtbar. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in einem Münchner Wohnstift, (…) ebenso ein monatliches Entgelt aus dem Sozialfonds der VG-Wort. (….) Briefe und Manuskripte geben Einblick, wie hart sie ihr Leben manchmal fand, wie sie kämpfen musste – und wie ungnädig und giftig sie werden konnte gegen eine neue Generation junger Frauen.“

Der penetrante Neonazismus

Erika Mann (Foto: Wikimedia CC)Ina Kuegler nutzt den von der Monacensia Online aufgearbeiteten literarischen Nachlass von Erika Mann (1905-1969), um vor allem das Material zum politisch-literarischen Kabarett „Die Pfeffermühle“ nach den bisher in der Forschung und im Feuilleton weniger beachteten Aspekten zu durchforsten. Und sie wird fündig: Die Mitbegründerin der militant-antinazistischen „Mühle“ lehnt in den 1960er Jahren entschieden die filmische Bearbeitung der Geschichte des Kabaretts durch den BR ab, obwohl die Vorbereitungen weit vorangeschritten waren:

Literatur zur „Pfeffermühle“ gibt es also – was fehlt, ist ein Film. Und da bietet die Monacensia aufschlussreiche Einsichten. So wurde 1966 ein TV-Film für den Bayerischen Rundfunk geplant, der aber nicht zustande kam. Im Nachlass kann man den Entwurf zu diesem Dokumentarstreifen einsehen: Es ist ein 44 Seiten umfassendes Typoskript mit handschriftlichen Ergänzungen bzw. Korrekturen von Erika Mann. (…) Am 28. Mai 1966 besuchte der Münchner Regisseur, Dramaturg und Fernsehproduzent Günther Sauer die in Kirchberg (bei Zürich) lebende Erika Mann – das Filmprojekt „Pfeffermühle“ schien auf einem guten Weg. Doch bereits einen Tag später schrieb Erika Mann an Sauer: „Erst im Gespräch mit Ihnen wurde mir sonnenklar: es gibt keine Verständigung zwischen den deutschen Fernguckern und Leuten wie mir, keine jedenfalls zwischen der ‚Pfeffermühle‘ und den Beschauern da drinnen.“ In den nächsten Monaten wurde sie immer deutlicher: „Hauptgrund meines Neins: Der penetrante Neonazismus, der in Wahrheit ganz der alte ist.“ Die Bestätigung folgte auf dem Fuß: Im Herbst 1966 wurde das ehemalige NSDAP-Mitglied Kurt-Georg Kiesinger deutscher Bundeskanzler, die NPD errang 15 Sitze im Bayerischen Landtag.

Die Konvolute einer Schreibarbeiterin

Mirjam Pressler (Foto: Wikimedia CC/Lesekreis)Mirijam Presslers (1940-2019) mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher fangen äußerst sensibel das Echo jüdischer Lebenswelten und der Schoah auf. Ihren Kinder- und Jugendprotagonistinnen, auch denen vom Leben geschädigten, gab die Autorin, deren Nachlass in der Internationalen Jugendbibliothek (IJB) verwahrt wird, jeweils eine authentische, starke und souveräne Stimme. Wie Katrin Diehl resümmiert, ist auch Presslers rund 300 Werke umfassende übersetzerische Œevre mehrstimmig – sie übertrug Kinderbücher und belletristische Gegenwartsliteratur aus dem Hebräischen, Niederländischen, Englischen und Afrikaans:

„Sie zählte zu den wichtigsten Kinder- und Jugendbuchautor*innen des Landes. Zum Schreiben gekommen war sie aus Geldnot und weil sie den neuen Ton, der in den 70ern in die bundesdeutsche Kinderliteratur Einzug gehalten hatte, prima fand. Von der Studentenbewegung beeinflusst, drang ein wenig Rotzigkeit auch in die Kinderbücher, bekamen kleine Helden und Heldinnen eine Stimme, die sich wacker durchs nicht immer ganz feine, dafür echte Leben schlugen. Dass diese Storys auf nichtdoofe junge Leser*innen setzte, denen man gerne noch eine Portion Selbstbewusstsein gegenüber den Erwachsenen verpasste, gefiel Pressler richtig gut. Sie nahm am Schreibtisch Platz, legte los und bekam für ihre „Problemgeschichten“ in deutlicher Sprache auf Anhieb Anerkennung. Auf ein Happy-End per Zauberspruch und Glitzerregen durfte man bei ihr zwar nie hoffen, ein Hauch von Zuversicht wehte dennoch durch ihre Texte, oder mit einem Pressler-Titel aus dem Jahr 1995 gesagt: „Wenn das Glück kommt, muss man ihm (eben) einen Stuhl hinstellen“. Auch als Übersetzerin – vor allem aus dem Niederländischen und dem Hebräischen – hatte sich Mirjam Pressler einen Namen gemacht.“

„Mann was ist das Schreiben doch für eine Macht

Karin Strucks (1947-2006) Anspruch auf radikale Subjektivität, nach dem alles Private stets auch politisch ist, zeichnet Ursula Sautmann nach. Vor allem in den 1970er und den frühen 1980er Jahren brachte Struck in ihren Romanen die Themen aus der bis dahin literarisch kaum wahrgenommenen weiblichen Lebenswelt zur Sprache. Tagebuchartig und autobiografisch grundiert sind die Texte der rebellischen Literatin, deren Nachlass die Karin-Struck-Stiftung e.V. der Monacensia übertragen hat; wütende Bekenntnisse, die keinen Halt machen vor dem Intimen, Entblößenden – sei es Sexualität, Abtreibung, Krankheit Geschlechter- und Machtkampf in den Liebesbeziehungen und auf der literarischen Bühne:

„Sehnsucht, Ehrfurcht, Demut, Selbstüberforderung: In diesem kleinen Satz „Mann was ist das Schreiben doch für eine Macht“, entnommen dem Roman „Klassenliebe“, steckt viel von Karin Struck und ihrem hohen Anspruch an die Literatur. Dabei geht es ihr um die Macht, die Dichter und Schriftsteller auf sie ausüben, wie auch um die Macht, die sie selber mit dem Schreiben ausüben möchte. In vielen ihrer Werke bezieht sie sich auf andere Dichter, so in „Klassenliebe“ auf Goethe’s Werther, in „Die Mutter“ auf Brecht, Gorkij und Pearl S. Buck, in „Männertreu“ auf Moravia und Gabriele Wohmann. Sie, die nicht mit Büchern aufwächst, verschlingt Literatur, sieht sich im Dialog mit Dichtern und Schriftstellern, möchte aber mehr, nämlich Menschen aus der Unterschicht in ihren Werken eine Stimme geben. „Ich muss meine Kraft des Schreibens finden, meine Wortgewalt des Schreibens“, formuliert sie in einem ihrer Essays mit dem Titel „An die Frauen“. 

„Wir haben alles Leben in der Hand …“

Katrin Diehl nimmt in der Monacensia einen Einblick in den Vorlass von Dagmar Nick (1926), die auf der literarischen Bühne mit ihrem ersten Gedicht „Flucht“ im Feuilleton der in München erscheinenden „Die Neue Zeitung“ 1945 debütierte. Ihr bisheriges Gesamtwerk umfasst neben der Lyrik auch Hörspiele, Reisebücher und Übersetzungen; ihr familiäres Netzwerk, dem sie sich 2015 in der Publikation „Eingefangene Schatten: Mein jüdisches Familienbuch“ widmete, ist mindestens genauso verzweigt und vielfältig, wie ihr künstlerisches und intellektuelles Netzwerk:

„Nicks Korrespondenz außerhalb der Familiengrenze zeigen eine lebendige, am öffentlichen Kulturleben sehr interessierte, hellwache, engagierte Frau, die in keckem Ton mitmischte. Carl Orff bat sie 1947 um ein Urteil zu einer Textprobe von ihr (er sah darin „versprechende Ansätze“), Marcel Reich-Ranicki fragte bei ihr an, ob man das, was sie ihm geschrieben habe, als Leserbrief in der „Zeit“ abdrucken dürfe, mit Michael Krüger wiederum „unterhält“ sie sich über die Macht eben jenes „Großkritikers“, der mittlerweile schon längst zur FAZ abgewandert war.“

Vom Festhalten des Lebens durch Schreiben

Katrina Behrend Lesch rekonstruiert die Biografie von Barbara Bronnen (1938-2019) anhand des in der Monacensia verwahrten Nachlasses vor allem als die Auseinandersetzung mit dem schwierigen elterlichen Erbe. Wie ein „Zimmer für sich allein“ zu beanspruchen in einer Familie in der mit der Mutter, der Journalistin Hildegard Bronnen-von Lossow und dem Vater, dem Schriftstellers  Arnolt Bronnen die Schreibzunft bereits besetzt ist?  Wie sich den Ambivalenzen eines Vaters schreibend zu bemächtigen, die seine jüdische Herkunft bestreitete und der mühelos vom Nationalsozialismus zum Kommunismus wechselte? In Bronnens breitem literarischen Œuevre ist die Vater-Tochter-Romantrilogie „Die Tochter“ von 1980, „Das Monokel“ von 2000 und „Meine Väter“ von 2012 zentraler Bedeutung:

„Barbara Bronnen hat früh zu schreiben angefangen. Mit acht Jahren verfasste sie ihr erstes Gedicht und widmete es, schön gebunden, ihrem Vater, dem Schriftsteller Arnolt Bronnen. Dass er schrieb, faszinierte sie ungeheuer, und sie wollte es ihm gleichtun. „Das ist, glaube ich, was man unter ‚Künstlerblut‘ verstehen kann“ sagte sie einmal in einem Interview, „dass man es einfach mitkriegt.“ Sie wollte auch immer in sein Arbeitszimmer eindringen, was ihm offensichtlich lästig war. In ihrem Roman „Die Tochter“ lässt Barbara Bronnen ihr Alter Ego Katharina von einer Episode berichten, in der der Vater beim Zuwerfen der Tür ihre Hand einklemmt und sich um ihre Schmerzensschreie nicht kümmert. Es war also eine durchaus zwiespältige Beziehung, genauso zwiespältig wie die Person Arnolt Bronnen selbst. Dennoch, ohne ihn und seine Geschichte, wäre sie nicht, wer sie heute sei, ohne ihn würde sie nicht schreiben. Um aus dem Schatten des mächtigen Vaters zu treten, musste Barbara Bronnen sich mit ihm schreibend auseinandersetzen.“

Als Abschluss der Reihe “Literarische Archive” ist für Anfang 2021 ein Beitrag über Gisela Elsner geplant.