[LiSe 04/25] Lyrische Kostprobe

Das Verhältnis von Wir und Ich
Sabina Lorenz ist italienisch-deutscher Herkunft. Wie viele andere, fing sie als Jugendliche an, Gedichte zu schreiben. Nur hörte sie damit nicht wieder auf.

Lyrik wurde für sie eine Methode, nachzudenken und – bestenfalls – eine ästhetische Form für diese Gedanken zu finden, wie sie es selbst bezeichnet.
„Unter der argumentativ-narrativen Diktion von Sabina Lorenz klaffen abgründige Fragen auf, nach dem Gemeinwesen als Schuld- oder Verantwortungsgemeinschaft und nach dem Verhältnis von Wir und Ich“, schrieb Pia-Elisabeth Leuschner von der Stiftung Lyrik Kabinett über ihren Stil.

Lorenz lebt und arbeitet in München, hatte Sozialpädagogik in München und London studiert und ist Mitglied der Gruppe „Reimfrei“.
Red

#Orlando

                  für I.

Lass uns wandern, ein Sprung durchs Feuer
vor dem nächsten Schnee, die Zukunft liegt
auf der anderen Seite, fortlaufende Schleife
aus Aufruhr und Wiedergeburt. Dort treffen
wir kleine Vögel inmitten Irisblüten, regen-

bogenfarben, und Staub,

gottlos, diese Stadt ohne Hass, eingebunden
in galaktische Federwolken, wo wir rätseln
über Artefakte, die uns unserer Menschlichkeit
beraubten, behauptend, dass irgendein Gott
auf ihrer Seite stand. Code □ m □ w als 

Lebensmuster, ausgemustert

die Unbestimmten, Zeugnisse einer Zeit
der willkommenen schäbigen Gefühle. Hass®
als eingetragenes Warenzeichen. Was sahen
sie, die Beifall klatschten? Sportficken, Massen-
morde, Kriege, bestehend aus Unterwerfung,

Angst und Tod, der Rest war Bürokratie.

Wir waren wieder jung, vergaßen, dass die Welt
nicht so verliebt in uns war, wie wir ineinander.
Wir träumten von Namensgebung. Vom Gebären
als menschlichen Akt. Von Angleichung der Stern-
bildgrenzen. Von Staub. Wir erwachen erneut

im andern Geschlecht. 

Selbstvergeudung über Epochen, Sprünge
durchs Feuer. Geisterchor der Möglichkeiten,
zeitlos fremd. Eine Burlesque. Ein Ruhepunkt
im Regen. Ein 300jähriges Leben als innigster
Liebesbeweis. Wie wilde Vögel füttern.

Weiter tanzen.
Sabina Lorenz

Aus:
Sabina Lorenz: #wie wir binden. # wie wir verschwinden.
Paperback, 80 Seiten
Allitera Verlag,  Lyrikedition 2000, München, 2016, 11,50 Euro

[LiSe 04/25] Gedenktafeln der Literaten – Teil VIII

„Diese Tage nemlich ziehe ich in diese neue Wohnung“
H. H. auf Durchreise

Von Katrin Diehl

Das Münchner Klima „tödte“ ihn, ließ der Dichter Heinrich Heine die in Hamburg oder Stuttgart zurückgelassenen Freunde und Bekannten immer mal wieder wissen. Aber zum Glück sei das sonnige Italien ja nicht weit und er schneller weg, als man gucken könne. Wenn da nicht der König wäre. Denn der sei ein „netter Mensch“ und lese mit „Theilnahme die politischen Annalen“. Und also blieb Heine wenigstens ein Dreivierteljahr in dieser eigenartigen Residenzstadt, von Ende 1827 bis in den Sommer des nächsten Jahres hinein. Heine, 1806 in Düsseldorf in eine jüdische Familie hineingeboren, gestorben 1856 im Pariser Matratzengruft-Exil, war mit seinen „Reisebildern“, Band 1 und 2, wie dem „Buch der Lieder“ bereits ein gemachter, anerkannter Gelehrtenkopf und auch für seine Zeit in der bayerischen Hauptstadt hatte er sich fest vorgenommen, dichterisch recht fleißig zu bleiben (der dritte Band der „Reisebilder“ wollte ja geschrieben sein). (mehr …)

[LiSe 04/25] Literaturfest München: Sprachen der Liebe. Wie wollen wir leben?

Daniel Schreiber kuratiert das Literaturfest

2025 findet das Literaturfest München erstmals im Frühjahr statt und setzt damit einen neuen Akzent im Kulturkalender der Stadt. Veranstalter ist das Literaturhaus München in Zusammenarbeit mit dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Kurator des Auftakt-Festivals ist der in Berlin lebende Autor Daniel Schreiber, der das Programm unter dem Motto „Sprachen der Liebe. Wie wollen wir leben?“ gestaltet. Auch die „Münchner Schiene“ – diesmal konzipiert vom Lyrik Kabinett – wird Teil des neuen Literaturfests. (mehr …)

[LiSe 04/25] „Münchner Schiene“ Die literarische Szene der Stadt

Die „Münchner Schiene“, diesmal kuratiert von Lisa Jay Jeschke und Chris Reitz, unter Federführung des Lyrik Kabinetts, zeigt erneut, wie innovativ die freie literarische Szene der Stadt ist. Auch das Münchner Literaturbüro präsentiert sich mit einem Info-Stand am 5. April beim „Open House“ in der Monacensia.  Red.

5. April 2025, 15:00 – 18:00 Uhr
Monacensia im Hildebrandhaus
Maria-Theresia-Str. 23

[LiSe 04/25] Kurzgeschichte: Haltestelle

Von Marc Richter

Die Geschwindigkeit des Zugs ließ die Tropfen horizontal über die Fensterscheibe laufen und der dickste Tropfen, dachte Sebastian, war Vater. Immer schneller als alle anderen, unaufhaltsam – bei einer Kollision mit einem kleineren Tropfen: einnehmend und unbeeindruckt. Er raste einfach an allem vorbei zum Rand der Scheibe und das war’s dann. (mehr …)

[LiSe 04/25] Empfehlungen: Buchtipps aus erster Hand

Die Mitarbeiter*innen der Münchner Stadtbibliotheken empfehlen für den Monat April diese Neuerscheinungen:

Nicolas Mathieu:
Jede Sekunde
Hanser Berlin

Ein Mann und eine Frau, nicht mehr ganz jung, angekratzt von den zermürbenden Routinen des Alltags – Arbeit, Familie, etwas Urlaub, so könnte das Leben dahingehen. Doch sie begegnen einander und Liebe erfasst sie mit der Kraft einer Naturgewalt. Sie sind zu überrascht, zu hungrig, um auch nur einen Moment zu zögern, und ab jetzt zählt jede Sekunde, in der sie zusammen sein können. Mit rückhaltloser Intensität schreibt Nicolas Mathieu die Chronik einer Leidenschaft, die alles andere in den Hintergrund drängt, und findet eine Sprache für das Begehren, die Eifersucht auf die „anderen“ im Leben der Geliebten und schließlich auch für den Schmerz der Trennung. (mehr …)