[LiSe 09/16] Kurzgeschichte: Das Schlussplädoyer

Sehr geehrter Herr Vorsitzender, sehr geehrter Herr Staatsanwalt, verehrte Anwesende!

Erlauben Sie, dass ich zu Beginn meines Schlussplädoyers mein Bedauern über die Entlassung meines Verteidigers ausdrücken möchte. Aber sie war dringend erforderlich. Seine fortwährenden Versuche, die hier zur Verhandlung stehende Angelegenheit ausschließlich aus der Perspektive eines schuldlosen Angeklagten darzustellen – er hielt diese Sichtweise wohl für die meine –, die übel riechende Mixtur von Halbwahrheiten über den Tatvorgang, die peinliche Bedrängung der Zeugen der Anklage, seine unhöflich störenden Unterbrechungen bei der Befragung dieser Zeugen durch den Herrn Staatsanwalt, all dies ließ bei mir, der ich mich ausschließlich der Wahrheit verpflichtet fühle, ein immer deutlicher werdendes Unbehagen, um nicht zu sagen, eine wachsende sittliche Empörung aufsteigen, sodass ich nicht umhin konnte, meinen Verteidiger zu entlassen und mit dem Einverständnis des Herrn Vorsitzenden mein Schlussplädoyer selbst zu übernehmen. (mehr …)

[LiSe 07/16] Kurzgeschichte: Gegenerinnerung

Mit den Frauen kamen die Sozialpädagogen und die Sushi-Esser.

Sie sagten, gut, solange wir Sushi essen dürfen, sind wir bereit.

Die Sterilisation erfolgte unauffällig.

Zuerst wurden Tiere eingefangen, bekamen für ein besseres Zuhause einen Chip in die Schulter und wurden über Jahre gewaschen, gebürstet und hodenlos.

Dann kamen Flüchtlinge, und die pädagogischen Vereine freuten sich, besorgten Desinfektionsmittel. Doch die Flüchtlinge wichen einer Registratur aus, mieden auch die Sushi-Bars. Sie gründeten unter den Gräbern ihren eigenen Verein: Unsere Eier sind groß, nannten sie ihn. (mehr …)

[LiSe 06/16] Kurzgeschichte: Drei Leben

Meine Mutter quälte sich zum Dorfarzt. An ihrer Seite ging Georgios, ihr Ehemann, der sie untergehakt hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie sich beide jemals so nahe gezeigt hatten in aller Öffentlichkeit. Die Leute würden reden. Schon über 20 Jahre waren sie verheiratet, eigentlich schon seit 25 Jahren, wenn sie so recht darüber nachdachte. Sie litt dieser Tage unter Bauchschmerzen und Übelkeit. Sollte es möglich sein, dass sie schon wieder schwanger war? Sie liebte ihre acht Kinder, aber allmählich war sie müde vom ewigen Kinderkriegen und der Kindererziehung und den 42 Jahren, die sie alt war. (mehr …)

[LiSe 04/16] Kurzgeschichte: Ein schöner Tag

Was könnte schöner sein als dieser Tag? Der auf dir lastet mit seiner unausgesprochenen Drohung, dass sie dich rauswerfen werden, wenn du so weitermachst. Dass du in deinem verwirrten, stotternden Zustand auf Dauer nicht tragbar bist. Unzureichende Leistung, die Menge an zusätzlichen Korrekturläufen und dann die Kollegen, die sich fragen, was plötzlich mit dir los ist. Deine Ängste kriechen auf einmal aus allen
Löchern und sie bestätigen sich alle. Du hattest also vollkommen Recht. Und das von Anfang an. Und nun balancierst du wieder einmal auf dem Millimeter-Bruchteil einer Papierkante. Luft. Dann ein gepflegter Zusammenbruch auf dem Klo. Und gleichzeitig das Gefühl, dass es jetzt, wo es zum Schlimmsten kommen könnte, endlich auch gut wird. Dein vollkommenes Gleichgewicht. Im freien Fall. (mehr …)

[LiSe 03/16] Kurzgeschichte: Raffles

Es ist tiefster Winter. Eisige Winde aus Labrador haben die Stadt mit Schnee zugeschüttet. Das Raffles in der Lexington Avenue, American Breakfast für zwölf Dollar fuffzich, please wait to be seated. Ich bin Stammgast. Ich darf einen Wunsch äußern:

„Nicht zu nah am Eingang, bitte.“

„This one okay, Sir?“

Ja, vielen Dank. Jeder Platz ist in Ordnung, sofern er nicht am Eingang liegt. Ich wohne im Radisson East Hotel, das sich 25 Stockwerke über diesem Lokal erhebt. Gestern Abend war der Bürgermeister im Fernsehen. New York hat den Notstand ausgerufen. (mehr …)

[LiSe 01/16] Kurzgeschichte: Immer Ärger mit Robbie

Mein Mobiltelefon während wir zur Konferenz unterwegs sind im selbst fahrenden Dienstwagen mit Roboter Robbie sagt plötzlich in die Stille hinein „Anruf von Teresa“.

Ich sage: „Konferenzvorbereitung läuft. Rückruf in drei Stunden.“

Robbie wiederholt: „O.k., Rückruf in drei Stunden.“ Wir stecken im Altstadtring fest, das wird sehr knapp.

„Solln wir lieber drehen, Rob?“

Er sollte sämtliche Stauinfos eigentlich zusammenführen, speichern, berechnen und an mich herausgeben. Integriertes Navigator-Diktier-Radiosystem, dritte Generation. Er gibt tonlos zurück „Noch zehn Minuten, Roy.“ Roy war mein Vorgänger, ist jetzt draußen, Alkoholiker, der arme Kerl. (mehr …)