by LiSe | 1. März 2015 | Blog, Kurzgeschichte
Ich fahr nicht gern mit der U-Bahn“, sagte Philip. „Aber wenn mein Auto streikt, bleibt mir nichts anderes übrig. Da hock ich dann und seh mir die Leute an, mit ihren Handys und Smartphones und Tablets, die sich für nichts anderes interessieren, und frag mich ernsthaft, was aus der Menschheit mal werden soll. Vor allem über die mit den E-Books wunder ich mich. So ein Teil ist doch sowas von seelenlos. Während ein Buch, das hat für mich was Sinnliches. Ein Buch hat für mich eine Seele.“
„Du bist absolut von gestern“, lachte Hannes. „Den E-Books gehört die Zukunft. Buchläden werden überflüssig, Hugendubel kann dichtmachen. Und ich überlege mir auch, so ein Teil anzuschaffen.“
Philip seufzte. Und dann wurde er lebhaft: „Hab ich dir eigentlich mal erzählt, wie ich Steffi kennengelernt hab? Ich bin in der U6. Neben mich setzt sich eine, die zieht aus ihrem Rucksack ein Buch. Der Distelfink von Donna Tartt. Ich bin sofort begeistert von der Frau. Den gleichen Roman habe ich nämlich in meiner Tasche. Ich kram ihn raus, sie sieht es, guckt mich an, als wär ich von einem andern Stern. Wir fangen an zu lachen. Und da sah ich, die Frau ist wunderschön. Wir sind gleich ins Gespräch gekommen, wie genial der Roman wär. Wenn jeder nur in sein E-Book gestarrt hätte, wär das nicht passiert, sie wäre an der nächsten Station ausgestiegen, und mein Glück mit ihr. Ich hab sie dann ins Rischart zu einem Cappuccino eingeladen. Und das war der Anfang. Wetten, dass du null Chance hast, eine Frau kennenzulernen, die sich nur für ihr elektronisches Teil interessiert? Ich setze einen Kasten Bier.“
Hannes nahm die Wette an. Da er selbst gern Krimis las, entschied er sich, um seine Charmeoffensive zu starten, für Arne
Dahls Falsche Opfer. Am nächsten Tag fuhr er mit der U6, sah sich nach einem Opfer um und hatte es schnell entdeckt: Ein junges Mädchen, das sich über ihr E-Book beugte. Hannes setzte sich ihr gegenüber und ließ seinen Rucksack auf ihre Füße fallen. „Entschuldigung, das war keine Absicht.“ – „Hä?“, machte sie, sah kurz auf und starrte wieder auf ihr Teil.
„Verzeihung, darf ich fragen, was Sie gerade lesen?“ – „Dürfen Sie nicht. Frage ich Sie vielleicht, was sie heute Morgen gefrühstückt haben?“
„Dürfen Sie gerne.“ Hannes zog seinen Krimi heraus. „Arne Dahl. Hab ich zu meinem Kaffee verschlungen, irre spannend. Das sollten Sie unbedingt …“ – „Sie nerven“, sagte sie, ohne aufzusehen.
„Das war nicht meine Absicht. Aber darf ich raten, was Sie so fasziniert? Ich tippe auf den Distelfink von Donna Tartt. Das soll ja ein ganz fantastischer Roman sein.“ – „Lassen Sie mich in Ruhe.“
Ihr giftiger Blick suggerierte ihm die Vorstellung von zwölf Flaschen Bier, die gerade in Philips Kühlschrank verschwanden. Aber noch gab er nicht auf.
„Eine letzte Frage“, er lächelte charmant, „warum lesen Sie nicht ein richtiges Buch? Eins zum Anfassen. Das ist doch viel sinnlicher.“ – „Mit Ihrer Sinnlichkeit gehen Sie mir auf den Geist. Außerdem sind Bücher von gestern. Und jetzt hören Sie auf mit Ihrem Gelaber.“
„Vielleicht haben Sie recht. Bücher sind von gestern. Aber Arne Dahl ist nicht von gestern.“ – „Krimis interessieren mich nicht. Ich lese Klassiker, Dostojewski und Tolstoi, wenn Ihnen das ein Begriff ist.“ Sie schaltete ihr E-Book aus und verstaute es in ihrer Tasche.
„Arne Dahl ist ein Klassiker“, sagte Hannes. „Der Klassiker unter den Krimiautoren. Ich würd es Ihnen gern mal leihen.“
Sie nahm das Buch und beäugte es. „Sind Sie vom Meinungsforschungsinstitut? Oder warum sind Sie so lästig?“
„Nein“, beteuerte er. „Ich finde es einfach nur toll, dass Sie sich für Klassiker interessieren. Deswegen würde ich Sie gern näher kennenlernen.“
Sie stand auf. „Ich muss raus. Da haben Sie Ihr Buch!“
Hannes winkte ab. „Ich schenke es Ihnen. Wollen wir uns morgen im Rischart treffen? Und Sie sagen mir, ob Sie vielleicht Ihre Meinung geändert haben? Um ehrlich zu sein, ich würde Sie einfach gern wiedersehen.“
Jetzt lächelte sie. Hannes triumphierte innerlich und holte im Geiste seine Bierflaschen wieder zurück.
„Morgen um zwölf im Rischart? Sie kommen?“ – „Ja“, sagte sie, „ich komme.“
„Wie heißen Sie?“ – „Das verrat ich Ihnen morgen.“
Sie stieg aus, lächelte ihm durch die Scheibe zu und ging beschwingt den Bahnsteig hinunter. Er sah ihr nach, wie sie das Tuch fester um ihre Schultern zog. Wie sie sich mit jemandem unterhielt. Weiterging.
Plötzlich stoppte. Umkehrte.
Hannes’ Herz machte einen Sprung. Dann sah er, wie sie den Krimi aus ihrer Tasche zog, ihn über einen Papierkorb hielt. Wie sie zögerte. Und ihn kurz entschlossen fallen ließ.
Hannes sprang auf, um seine falschen Opfer zu retten. Aber da schloss sich die Tür und die U-Bahn fuhr los. Er fluchte. Die Wette hatte er verloren. Und die Anschaffung eines E-Books würde er sich auf jeden Fall nochmal überlegen. Sonst würde er immer, wenn er das Ding in der Hand hatte, an seinen eben erlittenen Misserfolg denken. Und das musste nun wirklich nicht sein.
Gudrun Golch
by LiSe | 1. Dez. 2014 | Blog, Kurzgeschichte
Es ist kalt, artig stehen wir in der Schlange. Die Banken sollen nicht genug davon bekommen haben, heißt es, wir wollen nicht doof dastehen nächste Woche wenn es losgeht, die Münzen umdrehen müssen, das wollen wir nicht. Sie kommen uns entgegen, Leute mit kleinen Plastiktütchen, dem sogenannten Starter-Kit. Gleich werden wir sie in Händen halten, die neuen Münzen, den Euro.
Es gab eine Zeit – man muß etwas weiter zurückdenken – Wien hatte damals das größte Straßenbahnnetz der Welt, die Straßenbahnen hatten hölzerne Trittbretter und messingfarbene Griff-stangen und man konnte während der Fahrt auf- und abspringen, was aber streng verboten war. Die Schaffner trugen Schirm-Mützen und über der Schulter lederne Taschen an breiten ledernen Riemen. Mit einer Zange knipsten sie Löcher in die Fahrscheine, die aus billigem, dünnem, buntem Papier bestanden. Es war ein kompliziertes System. Ich habe es nie durchschaut. Die Fahrt kostete drei Schilling. Wir waren über vierzehn. Wir mußten voll bezahlen. Drei Schilling waren eine Menge Geld. Dann wurde von der Nationalbank eine neue Münze eingeführt und die Straßenbahn wurde vorübergehend sehr viel billiger. Vorübergehend, bis die Schaffner wußten, worauf sie zu achten hatten.
Die Fünf-Schilling-Münze, die aus Silber bestand, hatte im Lauf der Zeit durch die Inflation jenen Punkt erreicht, an dem ihr Materialwert die Fünf-Schilling-Marke zu überschreiten begann. Die Leute wollten den Fünfer nicht mehr ausgeben. Er war zu einer Geldanlage geworden. Und so wurde – wir kennen das aus anderen Ländern – ein neuer Fünfer eingeführt, kleiner, billiger, kein Silber mehr, nur noch Nickel. Er würde für viele Jahrzehnte, ja, wie sich herausstellte, bis zur endgültigen Abschaffung des Alpendollars, der Inflation paroli bieten. Der neue Fünfer war so klein geraten, daß er sich darin dem einzelnen Schilling, dem sogenannten Schlei, gefährlich annäherte. Der Unterschied war so gering, daß er mit bloßem Auge kaum noch wahrzunehmen war. Wer den Unterschied sehen wollte, der mußte die Münzen aufeinanderlegen. Und schließlich ließ man bei dem neuen Fünfer auch noch die Riffelung am Rand der Münze weg, wahrscheinlich ebenfalls eine Sparmaßnahme. Das alles ist Geschichte. Rückblickend wissen wir, daß der Betrug, dem durch diese Unvorsichtigkeit Vorschub geleistet wurde, weder den österreichischen Staat, noch die Wiener Stadtwerke/Verkehrsbetriebe in den Ruin getrieben haben.
Der Einser und der neue Fünfer unterschieden sich nur noch in der Farbe, hie Kupfer, da Nickel, es sei denn, man hätte die Zahl auf der Münze gelesen, aber Schaffner haben keine Zeit um die Zahlen auf den Münzen zu lesen. Sie haben wichtigeres zu tun. Sie müssen, an einer der messingfarbenen Griffstangen aus dem Wagen hängend, diesen abfertigen, indem sie gleichzeitig – Bimm! – an einem ledernen Riemen ziehen. Aber das ist Straßenbahngeschichte. Dies hier soll eine Falschmünzer-Geschichte sein.
Alsbald erschien eine Tinktur auf dem Markt, (die chemische Bezeichnung ist der Redaktion bekannt,) mit der man den einzelnen Schilling aufwerten konnte. Es war eine ziemliche Sabberei, hochgiftig, versteht sich, man mußte die Münze mit einer Krokoklemme in diese Soße hineinhängen, eine Nacht war genug, dann sorgfältig trocknen, man konnte das fertige Produkt aber auch gegen einen geringen Aufpreis auf dem Schulhof kaufen. Man gab dem Schaffner einen Schilling, bekam dafür eine Fahrkarte aus billigem, dünnem, buntem Papier, die er mit seiner Zange sorgfältig gezwickt hatte, sowie zwei Schilling Retourgeld. Ich war jedes Mal verblüfft. Sobald der Schilling, der in etwa so glänzte wie der neue, verkleinerte, verbilligte Fünfer aus Nickel, sobald dieser aufgewertete Schilling in der ledernen Tasche des Schaffners verschwunden war, war es ausgestanden. Man konnte aufatmen. Mit einem falschen Fünfer hätte sich unsereins – vierzehn Jahre, die wir waren – nicht gerne erwischen lassen.
Ich sitze an meinem Schreibtisch, die Münzen aus dem kleinen Tütchen sind vor mir ausgebreitet, sie sehen alle gleich aus. Ich drehe sie um, studiere die Zahlen. Ich überlege, wie sich damit ein Verbrechen begehen ließe, aber es fällt mir nichts ein.
Paul Holzreiter
by LiSe | 1. Okt. 2014 | Blog, Kurzgeschichte
Ein Himmel, zum Zerreißen gespannt. Der zitternde Horizont, der Hügel, hinter dem sie ständig das Meer zu sehen glaubte, das leise Summen im Gras – das alles erinnerte sie an einen Film. Die unerträgliche Helligkeit hinderte sie daran, sich zu entspannen und ruhig zuzusehen. Von dem grellen Sonnenlicht taten ihr die Augen weh.
Auf der Leinwand waren nur sie und der Hund, aber das Mädchen wusste – jemand führt einen Film vor, und sie hat keinen Einfluss darauf. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Die kleinen Lebewesen – Insekten – gaben weiter ihre Laute von sich. Das Hin-und-her-Huschen der Eidechsen war ein Teil des Stummfilms. Der Wind machte gerade Mittagspause, und es gab niemanden, der die Wäsche auf den Leinen und die Markisen vor den Fensterscheiben zum Flattern gebracht hätte.
Es war ihr auch früher manchmal so vorgekommen, als wäre nichts real. Der Film lief, und das Mädchen konnte sich von der Seite sehen. Immer noch siebzehn Jahre alt, in ihrem Kleid, mit Sommersprossen im Gesicht. Um ihre Fesseln rankten sich wie Efeu die Riemchen ihrer Sandalen. Eine solche Leere hatte sie mitten in der Stadt noch nicht erlebt.
Es kann doch nicht sein, dass alle am Strand sind und die Häuser deshalb leer stehen? Diese Gärten, Stühle und aufgespannte Sonnenschirme, unter denen niemand sitzt. Als wäre etwas passiert, und die Menschen wären verschwunden, das Leben aber geht ohne sie weiter. Aus keiner einzigen Küche hörte man das Klappern von Geschirr, die Rufe von Kindern, Gespräche.
Sie blieb stehen und suchte nach einem Vogel oder einem anderen Geschöpf, das sich nicht in seinem Loch verkrochen und keine Angst davor hatte, sich draußen, in dem schaukelnden Zenit zu zeigen. Sie entdeckte nichts und niemanden. Die Zypressen am Wegrand waren in die Glut dieser Stunde gespießte Fische. „Charly, Charly, komm zurück! Hierher!“ Ihre Stimme klang dumpf, der Hund hörte sie und blieb neben ihr stehen .
Sie erinnerte sich an die heißen Tage ihrer Kindheit. Die steil abfallende Wiese, wo ihre Großmutter die heruntergefallenen Pflaumen auflas, zwischen all den Kräutern und Blüten. Sie spielte im Schatten eines Baumes mit dem Rücken zum Wald. Und alles war saftig und grün.
Hier gab es nicht ein Neutron jener Atmosphäre. Es war ein irrealer, betäubender Sommer. An der Grenze des Lebens. Bei all dem Licht wurde sie das Gefühl nicht los, dass sein schwarzes Auge sie von irgendwo her beobachtete. Seine lautlosen Schritte kamen bald näher, bald entfernten sie sich und verwandelten sie von einem jungen Mädchen in eine alte Frau.
Die Gebäude, die kleine Kapelle, sie selbst, alles wurde von den Sonnenspitzen durchdrungen. Sie gingen mitten hindurch, so dass es keinen Zentimeter Schatten gab. Alles stand für sich allein. Im hellen Schein seines Schmerzes. Solche Einsamkeit kannte sie nicht. Sie weckte einen unstillbaren Durst, obwohl sie immer wieder aus der Flasche mit Sonnenwasser trank.
Charly näherte sich der Stelle, an der er sonst sein Revier markierte, kam aber schnell wieder zurück. Die junge Frau spürte jetzt nicht mehr, dass hinter der nächsten Anhöhe das Meer auftauchen würde. Es kam ihr so vor, als gähnte dort ein Abgrund, in dem es einmal Wasser gegeben hatte, das längst in den Furchen der Erde versickert war. Seit einer knappen Stunde bewegten sie sich auf der bekannten Strecke mit diesem unbekannten Gefühl. Geht es dir auch so, Hündchen, flüsterte sie. Du bist der einzige weiße Schatten in dieser Welt. An diesem blendenden Nachmittag gab es nichts zu entdecken. Alles war längst offenbart .
Ihr Blick stieß gegen eine schwankende Mauer aus Luft und prallte daran ab. Irgendetwas bewegte sich dort. Etwas war geschehen und hatte die Luft zum Beben gebracht. Jene tiefe Vorahnung einer Bewegung, irgendein rätselhaftes Band spulte sich ab, verdrehte die offensichtlichsten Dinge und zeigte ihre verborgenen Seiten. Und allein die Sehnsucht des Mädchens nach einem Windhauch wehte die Eidechsen wie trockene Halme vom Weg.
Kurz bevor sie den absurden Wohnblock erreichten, in dem sie gewöhnlich verschwanden, hielt ein Auto neben ihr. Am oberen und unteren Ende der Straße herrschte völlige Leere. Woher und wie diese schwarze Limousine mit ihrem metallischen Glanz unter dem Himmel aufgetaucht war, wer am Lenkrad saß und warum sie anhielt – sich das zu fragen, blieb dem Mädchen keine Zeit. Sie verfolgte das Geschehen wie auf einer Leinwand, mit leicht zusammengekrampftem Magen und erwachter Neugier.
Das vordere Seitenfenster glitt langsam nach unten, eine grazile Guillotine. Ein Kopf mit üppigem, von Gel gebändigtem Haar erschien. In ihren Augen ein Feld mit Olivenbäumen. Ein Gesicht unbestimmbaren Alters mit dunkler Brille verzog die Lippen zu einem Lächeln. Sie fragte: „Kann ich Ihnen helfen?“
An dieser Stelle reißt der Film. Im letzten Bild sitzt ein kleiner Hund auf dem Bürgersteig und wartet.
Tania Rupel-Tera
by LiSe | 1. Juni 2014 | Blog, Kurzgeschichte
Der Schmerz kam schlagartig und sofort mit voller Wucht.
Nach einer Aspirin und einer Stunde gekrümmt auf dem Sofa wählte ich Berts Nummer. Kein Empfang. Das kannte ich schon. Blieb nur Greta, meine Assistentin, aber Greta kam gerade heute eben nicht in Frage. Auf gar keinen Fall.
Als hätte er das eingesehen, gab mein Leib plötzlich Ruhe. Schweigen da unten. Vielleicht bekam ich doch nur meine Tage. Allein in dieser absurd großen Wohnung, gefangen zwischen Fensterscheiben, die sich nicht öffnen ließen. Ich sah hinunter auf die Siebenmillionen-Niemandsstadt nahe der Grenze zur Mongolei. Novembersmog. Winzige Autos bewegten sich durch den gelblichen Nebel, aus dem die Hochhäuser ragten wie schlechte Zähne.
Das am Freitag mit Greta wäre mir vor ein paar Wochen noch nicht passiert. Sie hatte in der Datei für die Präsentation wieder das falsche Logo verwendet, in dem das W mit dem M vertauscht war. „Diese unendliche chinesische Blödheit!“, brüllte ich durchs Großraumbüro, außer Kontrolle geraten, eine Rassistin war ich, und Greta stand auf, die gemeinte Chinesin, die sich ihren seltsamen Vornamen aus Ehrfurcht vor den deutschen Vorgesetzten selbst verliehen hatte. Das war so üblich.
„Oh, vergessen“, sagte sie und trippelte auf ihren zehn Zentimeter Lackpumps um den Schreibtisch herum. Sie war besonders bemüht gewesen in den letzten Tagen, weil es um die Hochzeit ging. Auch das war üblich, die Vorgesetzten gingen zur Hochzeit und hielten Lobreden.
„Ich werde nicht zu deiner Hochzeit kommen“, sagte ich. „Und merk dir das endlich mit dem Logo, Greta, hörst du?“
Der Schmerz kehrte zurück, und diesmal blieb mir die Luft weg. Ich bekam richtige, kalte, schweißnasse Angst. Und wählte Gretas Nummer, denn jetzt war es schon egal.
Meine Assistentin ging jedoch dieses eine Mal nicht ran. Mailbox.
Ich wartete. In der Küche über die Spüle gebeugt, ständig ganz kurz davor, mich zu übergeben. Ich trank ein Glas Wasser.
Wie sterbensallein sie war, diese Frau in der Küche im 39. Stock mit dem Glas Wasser in der Hand. Sie war mir fremd.
Zweiter Versuch: „Es tut mir leid, Greta! Melde dich, wenn du das hörst, bitte! Ich fahre jetzt mit dem Taxi ins blaue Krankenhaus. Vielleicht ist Dr. Mayers da.“
Im blauen Krankenhaus tummelten sich die Menschen, alle wollten dran kommen, eine alte Frau schubste mich, ich schubste zurück. Alle wollten drankommen, sie hielten Geldscheine hoch. Vorne beim Tresen zeigte ich mein Handy, auf dem Display die Übersetzung meiner deutschen Eingaben.
„Dr. Mayers? Ist Dr. Mayers da?“, fragte ich.
Keine Antwort. Nur eine Armbewegung, das hieß wohl nach oben, und ich ging nach oben.
Ein Wartezimmer, Frauen, ich wählte Bert an, aber eine Schwester deutete erbost auf das Zeichen an der Wand: Handys verboten.
Dann spürte ich die Feuchtigkeit. Ich sah an mir herunter. Ein dunkler Fleck breitete sich aus. Ich brauchte eine Toilette, unbedingt, suchte den Gang entlang, aus der Feuchtigkeit wurde Nässe, meine Socken sogen sich voll, die Turnschuhe.
Das Toilettenschild. Der Gestank wie eine Wand. Nichts als eine Rinne, über die man sich hockte. Es war nur eine weitere Frau da, sie hockte schon. Ich zog meine Hose herunter und hockte mich auch. Aus mir heraus kam ein hellroter Strahl. Die Frau neben mir entleerte sich. Sie war hochschwanger.
Was sollte ich tun? Unten in Wellen die Krämpfe, es gab ja nur noch unten, oben war ich nicht mehr da, oben war ich leer. Und dann spürte ich ein Etwas aus mir herausschwämmen, ein Klümpchen, mit einem Schwall, es wurde ruhiger in mir ohne dieses Etwas, der Schmerz ließ nach, obwohl das Blut weiter floss, immer weiter.
Ich fing an zu schreien. Die Frau neben mir schaute in die Rinne, Entsetzen im Gesicht und jammerte etwas, ich verstand sie nicht und schrie weiter. Die Frau stand auf, säuberte sich hastig, und ich flehte sie an: “Holen Sie Hilfe!“
Aber sie blieb da, zog mich hoch und presste mir ein Tuch zwischen die Beine. Dann deutete sie auf sich und machte die Zahl drei mit der Hand, lächelte und zeigte auf ihren hochschwangeren Bauch.
In dem Moment wusste ich es. Dr. Mayers hatte gesagt, ich könne nicht schwanger werden. Ein Irrtum. Jetzt wusste ich auch, was die Frau mir hatte sagen wollen. Ich packte ihre Hand, und ich sagte: „Xie Xie.“ Danke.
Mehr schaffte ich nicht mehr. Ich knickte ein.
Die Frau rannte hinaus, die Schwester kam und zerrte mich auf einen Rollstuhl, schob mich in einen Saal mit etlichen Gynäkologenstühlen nebeneinander, auf allen Frauen wartend, auf einen wurde ich gehievt, eine Schüssel zum Auffangen des Blutes unter mir.
Neben mir klopfte ein Gerät: Die Herztöne eines Föten. Während ich das hörte, wurde ich ruhiger. Ich sah auf meine Füße, die nassen Socken.Und dann tauchte ein glitzernder Pandabär zwischen diesen Füßen auf, auf einem pinkfarbenen T-Shirt, eine schwarze Brille und eine Bärchenhaarspange. Ich fing sofort an zu weinen. Greta umarmte mich.
„Chefin!“, rief sie, „Chefin!“ und drückte mich fest und sagte: „Dr. Mayers kommt, ich habe gesagt, Sie sterben.“
Ich schluchzte immer lauter. „Greta, es tut mir so leid.“
Sie wischte das mit einer Handbewegung weg. „Das waren nur Hormone. Nicht Sie, Chefin, Hormone. Das sind Biester.“
Ich bemühte mich zu lächeln, heulte aber weiter.
„Ich werde auf deiner Hochzeit…“
„Schluss damit. Erst Auskratzung, dann Hochzeit.“
Jetzt lächelte ich tatsächlich.
„Ich war schwanger,“ sagte ich.
Greta biss sich auf die Lippe, streichelte meinen Fuß in der blutigen Socke, beugte sich dann über mich und flüsterte: „Einmal schwanger, wieder schwanger. Sie müssen nur Sex haben.“
Sie kicherte. Und hielt meine Hand.
Heike Duken
(Stark gekürzte Version der Sieger – Geschichte des Haidhauser Werkstattpreises 2013)
by LiSe | 1. Mai 2014 | Blog, Kurzgeschichte
Fünf Jahre war es her, dass sie, umdrängt von Bewunderern, ihn über Köpfe hinweg gegrüßt hatte. Oder, aus ernüchterter Sicht und vager, dass er hatte meinen können, sie habe ihn gegrüßt. Und nun gestern, dass sie erneut, diesmal in Salzburg, und wieder wie zufällig einander gegenüber saßen. Im Halbschatten ausgeblichener Markisen. Hoch über der Salzach. In einer zehrenden sommerlichen Wärme. In der er die Frau dort drüben, über Tische hinweg, kaum aus den Augen ließ. Wenn sie sich ordnend in die Locken griff. Wenn sie sich räkelte. Wenn sie den Arm hob und hinter dem Hals an ihren über den Nacken schaukelnden Haaren sichernd herumnestelte. Wenn sie den kurzen Ärmel ihres Kleides mit in die Höhe zog, – dass man ihr unter die Achsel hätte blicken können, – wie dieser Mensch dort, der ungeniert mit ihr tafelte, fast drei Jahrzehnte älter als sie, mit unrasierter Lippe, läppischem Lippenbärtchen, während er, Remarque, Zeit seines Lebens sich dort und sonstwo entmilitarisieren sollte, – und doch, das hatte dieser Fremdling voraus, dass er längst wusste, ob sich die Frau, die er sich anmaßte, der hier die brütende Hitze feucht unter die Achseln kroch, wenigstens unter den Armen schor, dort, fast schon auf halbem Weg aller Liebhaber. Alfred POLGAR, wie er sich nannte, – Remarque, er hätte ihn schütteln können, wie er sich hatte schütteln lassen müssen, um sich KRAMER schimpfen zu lassen, – gehässig schütteln! – bis schlicht so etwas wie POLACKE herauskommen musste! Wenn man es wie der faschistische Mob, wenn man es zeitgemäß nahm, so wie bei ihm.
Remarque, wäre er selbst nicht in Begleitung gewesen, er hätte sie angesprochen. Hätte sich einen der unbequemen Stühle genommen. Hätte sich zwischen sie gesetzt. Bis er dem Voyeur, diesem Achselgaffer da, lästig geworden wäre.
Sie waren später gekommen als er mit der Schwarzenbach. Waren auch früher gegangen. Er hatte den Kellner gefragt. Er hatte sich vergewissert:
»Kannten Sie den Herrn, dort, drei Tische weiter?«
»Ja. Herrn Polgar?«
»Alfred Polgar?«
»Ja. Frau Dietrich und der Herr Polgar waren gestern schon hier. Sie kannten ihn nicht? Und Frau Dietrich? Marlene Dietrich?«
»Nein, – nur aus der Presse. Aber heißt der Herr nicht mit bürgerlichem Namen schlicht Polak?«
Der Kellner bewahrte Fassung: »Entschuldigen Sie mich bitte!« Er hatte es plötzlich eilig.
Aber der andere, dieser sperrige Mensch da, mit den allein schon für den Austausch von Visitenkarten viel zu groß geratenen Händen, er hatte vermutet, er hatte gewusst, auf wen er hier stieß. Vielleicht wäre Polgar bei der Wahl eines Tisches, der ihm oder der Dietrich zusagte, an ihnen vorbei bis an das Ende, die Stirn der Terrasse gegangen. Hätte er nicht Remarque oder die Schwarzenbach erkannt. Er hatte Remarque nur kurz mustern müssen. War stehen geblieben. Hatte der Dietrich mit entschiedenen Gesten dann einen Tisch vorgeschlagen, an denen sie bereits vorüber gekommen waren. Drei Tische weiter. Drei Tische zurück. Zufall war es vielleicht, dass die Dietrich dann dort den Stuhl gewählt hatte, auf dem sie Remarque nicht die Schulter, gar den Rücken zeigte, vielmehr geriet er unmittelbar in ihr Blickfeld, über die Schulter ihres Begleiters hinweg. Doch die Distanz über die beiden trennenden Tische war zu groß, um sich gewiss zu sein, selbst wenn sie sich sahen, selbst wenn auch sie ihn wahrgenommen, ihn erkannt haben sollte, dass sie Blicke tauschten, zu denen sie sich bekannten. Lächelte sie? Falls sie überhaupt lächelte! Ja, jetzt wieder, wenn sie irgend etwas bestellte oder sich vorschlagen ließ. Weniger im Gespräch mit diesem Menschen, dem er nur in den kahlen Nacken, über die Schulter sehen konnte, auf die vergilbten Hände, die dieser verwitternde Mensch erstaunt, schwärmerisch heuchelnd, dann wieder beteuernd, abwehrend hoch reißen konnte, wenn die Dietrich die Schultern hob, zu zweifeln oder zu widersprechen schien, wenn sie herzlich lachte, – ja, lachte, wenn dieser Polgar da ihr mit den ungeschlachten Gesten seiner Hände irgendwelche süffisanten Komplimente machte. Allein, wenn man meinte, dass sie herüber sah, nein, wenn sie aufschaute, über die Schulter ihres Begleiters, über die beiden trennenden Tische, dass man denken, dass man sich fühlen machen wollte, man habe sich wiedergefunden: sie blickte wie selbstverloren. Wie verloschen. Wenn er dann wich, zur Seite ausbrach, den Kopf flüchtig wandte, die Schwarzenbach ansprach, um dieser knabenhaften Frau nicht auffällig zu werden, wenn er wie beiläufig dann über die Tische gegen das ferne Augenpaar zurückfand, schien ihm der Blick der Frau, die ihn einmal beim Namen gerufen hatte, unverwandt in eine Ferne gerichtet, in der sie auf seine Rückkehr gewartet zu haben schien.
Sooft er sich später auch fragte, er konnte sich an niemand erinnern, der an den beiden Tischen zwischen ihnen gesessen haben sollte. Es fiel ihm leichter, sich an zwei leere, abgeräumte Tische zu erinnern.
Hans Boeters
(Aus dem Remarque-Roman: Schlafen in Luft, Wasser und Feuer)
by LiSe | 1. Apr. 2014 | Blog, Kurzgeschichte
Sechs Zimmer – das war, siebenköpfige Familie her oder hin, in den ersten Jahren nach dem Krieg zu üppig, befand das Gemeindeamt. Drei davon wurden beschlagnahmt und Leuten zugewiesen, die der Flüchtlingsstrom in unser kleines Dorf geschwemmt hatte. Einquartierung hieß das neue Wort. Das hatte ich noch nie gehört, und ich sagte es viele Male vor mich hin. EINKWATIERUNG. Es klang so schön nach Sommerabend mit Froschkonzert, aber in Wirklichkeit bedeutete es, dass wir zusammenrücken mussten, weil fremde Leute in unsere Wohnung kamen. In die beiden Räume zum Hof zog Frau Helferich mit ihrer kleinen Tochter Verena, das große Kinderzimmer mit Blick zum See und in den Park besetzte Frau Singer. Meine Großmutter blieb in ihrem Zimmer, meine Mutter schlug für sich und meine beiden ältesten Geschwister im Wohnzimmer Schlafplätze auf, ins kleine Kinderzimmer, wo mein jüngster Bruder und ich schliefen, wurde ein drittes Bett für meinen mittleren Bruder geschoben.
Mir machte das nichts aus, ich fand unser Zimmer jetzt viel spannender. Wir spielten die Höhlenkinder im heimlichen Grund, bauten uns Höhlen aus Decken und Kissen und besuchten uns gegenseitig. Das war eine regelrechte Expedition, denn zuerst musste man einen Fluss überqueren und dann auf dem Bauch durch einen langen dunklen Gang kriechen. Am schönsten war natürlich die Bergbesteigung. Auf der einen Seite mit Schwung hinauf, auf der anderen ein kühner Sprung hinunter aufs Bett, dass die Sprungfedern ächzten. Wir fanden das äußerst lustig und wollten es immer wieder tun. Aber draußen lagen die wilden Bären auf der Lauer, sie stürzten plötzlich herein mit schrecklichem Gebrumm und Tatzenhieben, zerstörten unsere Höhlen, wickelten uns ganz fest in die Decken und drohten, wenn wir uns unterstanden, noch einmal auf den Schrank zu klettern, würde das böse enden.
Woher Frau Helferich kam war ungewiss. Im Gegensatz zu Frau Singer, die durch ihren Akzent zu erkennen gab, dass sie aus Russland stammte. Frau Helferich lief auch tagsüber im Bademantel herum, mit einer Zigarette in der Hand, und brauchte immer eines von uns Kindern, das sie zum Besorgen schickte. Wie eine Eidechse glitt sie aus ihrem Zimmer und raunte demjenigen, der gerade vorbeikam, ihre Wünsche zu. Wir liefen gerne für sie zum Bäcker, zum Kramerladen, zum Zeitungskiosk, denn meistens durften wir die Wechselgroschen behalten. Das Bestechungsgeld der Mutter hielt uns nicht davon ab, die Tochter zu ärgern. Verena war ein farbloses, mageres, quengeliges Dingelchen, das sofort zu heulen begann, wenn wir es nur antupften. Natürlich verpetzte sie uns bei ihrer Mutter, aber das half nur kurzzeitig, denn diese wollte es sich mit uns nicht verscherzen.
Wenn Frau Helferich Besuch von ihrem Freund bekam, verwandelte sich das schlampige Bademantelentchen in einen Schwan. Das blonde Haar mit Kämmen und Spangen zu einer kunstvollen Frisur aufgetürmt, die Lippen brennend rot geschminkt, Seidenstrümpfe mit geraden Nähten, die Schuhe hochhackig, stöckelte sie am Arm von Herrn Scaria von dannen. Herr Scaria war das, was man einen gutaussehenden Mann nennt, groß schlank, elegant gekleidet und äußerst höflich. Er pflegte meine Mutter mit Handkuss und Gnädige Frau zu begrüßen, was ihr nicht unangenehm war. Später sagte sie zu meiner Großmutter, dass er ein Schieber sei, aber einer mit Manieren. Dabei lachte sie merkwürdig und schob die Stange Zigaretten und das Päckchen Kaffee auf dem Tisch hin und her.
Mit Frau Singer hielt die Literatur Einzug in unsere Wohnung. Eines Tages hing ein Zettel an unserer Haustür, darauf stand SALONABEND. Das war wieder so ein neues Wort, und ich stieg damit die Treppe hinauf, auf jeder Stufe eine Silbe. SA-LO-NA-BEND. SA-LO-NA-BEND. Frau Singer, erklärte mir meine Mutter, ist Übersetzerin und Rezitatorin. Sie liest Gedichte vor und Geschichten, und die Leute kommen und hören ihr zu. Das nennt man einen Salonabend. Dazu wurden aus allen Räumen sämtliche Sitzmöbel in ihr Zimmer getragen, Großmutter schlang sich die Goldkette um den Hals und hüllte sich in ihre weiße Seidenstola, und meine Mutter zog ein dunkelblaues Wollkleid an mit einem weißen Krägelchen und weißen Manschetten. Wir bekamen unser Abendbrot in der Küche und mussten früher als sonst schlafen gehen. Wenn die Besucher eintrudelten, lagen wir schon im Bett und hörten, wie das Stimmengewirr immer mehr anschwoll, um schließlich auf einen Schlag zu verstummen und einer Stimme Raum zu lassen. Sie begann mit langsamen, weit ausholenden Bewegungen, drehte und wendete sich, tanzte auf und nieder, schwenkte blaue Bänder hinter sich her, stieg höher und höher, mitreißend, vehement, sie zog mich in ihren Bann, ver-zauberte mich, und ich malte mir aus, wie die Stimme aussah, wie eine Fee auf der Mondwiese – aber nie erlebte ich das Ende, jedes Mal wurde ich wie im Märchen vom Schlaf übermannt.
Am anderen Morgen habe ich mir Frau Singer genau angeschaut. Aber sie sah so aus wie immer, eine kleine, etwas bucklige Frau mit grauen, zu einem festen Knoten hoch gezwirbelten Haaren, einem strengen Gesicht und einer energischen harten Stimme, vor der ich mich stets ein wenig fürchtete.
Katrina Behrend